„I’ve read your last novel“

Filmkritik zu Kirby Dicks und Amy Ziering Kofmans Derrida-Doku­mentation

Stefan Höltgen

Im Zentrum des Dokumentarfilms „Derrida“(2002) steht die Frage des "Wer oder Was". Sowohl bei den Valenzen der Liebe als auch bei denen der Verge­bung: Lieben wir jemanden oder lieben wir jemanden für etwas? Vergeben wir jemandem oder vergeben wir jemandem etwas? Diese Frage, die nach Subjekt oder Objekt, dominiert Derridas Überlegungen im Dokumentarfilm "Derrida".

Und dieser Dokumentarfilm selbst reflektiert in seinen filmischen Modi eben­falls das "Wer oder Was": Zeige ich einen Film über eine Person (Derrida) oder zeige ich einen Film darüber, was eine Person ist (Philosoph). Die Filmer sind sich selbst darüber unschlüssig und tragen ihre Frage versteckt (Derrida: "dissimuler") an den Denker heran: Sie fragen ihn persönliche Dinge und fragen ihn über seine Philosophie aus. Doch weder das eine noch das andere findet eine Antwort: Derrida "kann nicht" vor der Kamera darüber sprechen, wie er seine Frau kennen gelernt hat, welches seine Lebens­traumata waren oder was er "ganz spontan" über Liebe zu sagen hat. Genauso wenig kann sowohl das Zitieren seiner Texte, als auch das Abfilmen Derridas bei Vorträgen noch der Modus seiner Mitteilung selbst ("Zunächst einmal muss ich sagen, dass dies hier keine natürliche Situation ist.") darüber Auskunft geben, was denn Dekonstruktion sei.

Hilflosigkeit macht sich also bei den Dokumentarfilmern breit: Weder das Wer noch das Was ihres Gegenstandes können sie filmisch erfassen. Dass ihnen das nicht gelingt, sind sie wenigstens im Stande zu inszenieren: Sie stellen lächerliche Fragen an den Philosophen, zeigen, wie ihm lächerliche Fragen gestellt werden, zeigen, wie er ernsthaft Fragenden ernsthaft zu antworten versucht - jedoch in lächerlichen Situationen. Die Filmer sind bemüht, ihren Gegenstand Derrida, wenn sie ihn schon nicht "fassen" können, so doch wenigstens mit ihren Zweifeln und Unsicherheiten umkreisend zu "erfassen". Und dafür konzentrieren sie sich dann auf das "Wie".

Denn "wie" sie Derrida und seine Theorie filmisch einzufangen versuchen, ist ebenfalls wieder dissimulativ: Sie verbergen ihre Unsicherheit hinter der technischen Apparatur, die sie mitinszenieren, ganz so, als wollten sie Derridas "Zweifel der Authentizität gegenüber einer Kamera" filmstilistisch abnicken. Sie authentisieren sich selbst, indem sie den Philosophen über die Kamera, die ihn gerade filmt, räsonieren lassen und gehen noch einen Schritt zurück und zeigen den Philosophen, wie er auf den Bildschirm schaut, auf dem er selbst über die Kamera räsoniert und gehen noch einen weiteren Schritt zurück und zeigen auf der dritten Ebene Derrida, wie er Derrida an­schaut, wie er Derrida anschaut, der über die Augen und das Blicken spricht. Und als wäre diese "Unschuldsbekundung" nicht ausreichend, werden Kameraleute, Mikrofonhalter, Mikrofonanbringer und andere Mitglieder der Filmcrew immer und immer wieder mit in die Kadrage gesperrt, um zu be­weisen, dass dieser Rahmen ein hilfloses Werkzeug der Vermittlung ist ... doch wer filmt diese Filmenden?

Die Naivität ist Täuschung (dissimulé). Eine Täuschung des Zuschauers über das Sujet und über die Möglichkeiten des Films und speziell der abgefilmten Philosophie. Im Film "Derrida" wird alles, was Derrida sagt, auf filmischer Ebene verdoppelt und quasi zur Bestätigung des Gesagten inszeniert. Auf der Strecke bleibt dabei nur einer: Derrida. Der hat schon während der Drehar­beiten seine Zweifel am Projekt, wenn er sagt, dass 25 Stunden gefilmt werden und der Filmer dann entscheidet, was in die anderhalb Stunden ein­geht, damit es "sein Kunstwerk" wird.

Damit ist "Derrida" kein Porträt über den Philosophen und keine Dokumenta­tion über seine Philosophie. Eingestreut werden zwar immer wieder dekon­textualisierte Passagen aus seinem Werk (unterlegt mit Sakamotos be­deutungsschwerer Synthie-Musik), doch die sollen so wirken, als würden sie sich an das vorher von Derrida in die Kamera Gesagte anlehnen ... wieder nur belegen also. Der Film ist neben all seiner Naivität und Aussagenlosigkeit jedoch eines ganz intensiv: ein Dokumentarfilm. Zwar einer, der sein Dokument nicht zu filmen im Stande ist, der diese Misere jedoch immerhin filmisch gewieft als Selbstdokument des Filmkünstlers offenlegt. Hier war der filmisch naivere Dokumentarfilm von Safaa Fathy von 2000 ehrlicher, weil er den Denker zwar ins filmische Klischee gedrängt, sich damit jedoch die Souveränität über seinen Gegenstand bewahrt hat.