Die große Einsamkeit des Rainer Maria Rilke

Fritz J. Raddatz, Rilke, Überzähliges Dasein, Eine Biographie, Arche Literatur Verlag AG, Zürich, Hamburg 2009, ISBN: 978-3-7160-2606-9, 224 Seiten, Preis: 22,- Euro.

von Stefan Groß

Um es vorwegzunehmen: Es ist ein gutes Buch, das über den nach Goethe wohl weltweit meistgelesenen deutschsprachigen Dichter Rainer Maria Rilke nunmehr im Arche-Literatur Verlag vorliegt. Bewegend, furios, sprachgewaltig und bildreich beschreibt der Benn- und Heinebiograph und Herausgeber von Kurt-Tucholskys Gesammelten Werken, Fritz J. Raddatz, nicht nur die existentielle Befindlichkeit eines Ausnahmekünstlers wie Rilke, sondern auch die bewegenden Momente eines künstlerischen Schaffens und Lebens, das immer wieder mit dem In-die-Welt-Geworfensein rang.

Raddatz’ biographischer Essay ist auch ein Buch über den Publizisten Raddatz selbst. Zugleich aber auch ein intimes Bekenntnis zu einem Rilke, der nicht nur Lob, sondern ob seiner religiösen und frühen sentimentalischen Gedichte oft Spott und Hohn erntete.

Den einen war er zu monumental, den anderen zu verspielt, für andere war er der Dichter par excellence, so beispielsweise für Marina Zwetajwa, die ihn zur Künstlerpersönlichkeit stilisierte. Daß Thomas Mann die Verspieltheit, die bewegte, in Bilder und Momentaufnahmen gerinnende Sprache Rilkes nicht schätzte, mag insofern nicht überraschen, weil hier zwei Welten aufeinandertrafen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Der Lübbecker Kaufmannssohn verabscheute den Sprachkult des „österreichischen Snobs“, dessen „Ästhetizismus, sein adliges Getu’, seine frömmelnde Geziertheit“ ihm immer „peinlich“ waren und ihm die Prosa „unerträglich“ machte.

Empfindsam, doch nicht ohne Kritik zeichnet Raddatz den Lebensweg von Rilke nach, von einem der immer von einer geheimnisvollen Aura umweht und umgeben war, von einem, der sich nicht nur als Dichter, sondern auch als Mensch aller persönlichen Nähe entzog.

Es war dieses Unfaßliche der Person Rilke, das ihn für all jene zu einem großen Dichter werden ließ, die wie er das Metaphysische, das Sich-Entziehende liebten und suchten.

Neben dieser Plastizität der Sprache, neben dem In-Stein-gemeißelten Bild- und Marmorwerden derselben, dem Sich-Begeistern für die vollendete Form, war es das Expressive seiner Lyrik, die Metaphorik und die Ereignishaftigkeit der beschriebenen Bilder, die Rilke für Raddatz zu einem Surrealisten avant a lettre werden ließen. „Es ist so verblüffend wie beglückend, Rilkes literarische Technik des gefrorenen Details einerseits zurückzuverfolgen in seine Erlebniswelt, aus der sie sich zugleich herausgelöst hat wie Eisschollen aus einem Fluß, zu eigenem Rhythmus.“

Dieses Kompositionsgefüge „Vorgefundenes wie eine Glasscherbe aufzuheben“, um diese in ein groß komponiertes Fenster einzufügen, „macht die Malte-Prosa zugleich gläsern und artistisch perfekt.“ Was Rilke mit seinem Malte also vor der Zeit des Surrealismus in aller Wortgewaltigkeit schon als künstlerisches Mittel verwendet, ist die Collage, jenes Zusammenfügen disparater Einzelheiten, wo nicht nur überkommene Gestaltungsprinzipien aufgelöst werden, sondern wo das scheinbar Zufällige, Unzusammenhängende, in einen neuen Zusammenhang gestellt wird.

In aller Ausführlichkeit mit den jeweils biographischen Bezügen beschreibt Raddatz den Entwicklungsgang Rilkes, der mit der frömmelnden Geziertheit eines „Silbenkonfektionärs“ beginnt und dann in jener unnachahmlichen „Sphärenmusik“ endet. Unterwegs zum Sein, so ließe sich die Genealogie Rilkes umschreiben, die vom bloß äußerlichen Empfinden und Schwelgen ausgeht, von einer bloß konstruierten Schein-Welt, die nicht verinnerlicht ist, um dann peu à peu zum Wesen der Kunst, zu ihrem Kern voranzuschreiten.

Auch spannt sich Raddatz’ Buch immer wieder einfühlsam um die großen Pole von Rilkes künstlerischem Werden, um die Einsamkeit, die Gottesferne, die Liebe und den eigenen Tod. Immer, so wird deutlich, schöpft der aus Prag stammende Dichter, den Raddatz als politischen Menschen und Deutschlandhasser, als haßerfüllten Anti-Wilhelmisten beschreibt, seine Kreativität wie eine Schnecke aus der Selbstreduktion seiner Seelenbefindlichkeit – die innere Struktur Rilkes bleibt hermetisch, lebt in und aus der Ästhetisierung eines Ich, das um Kunst zu produzieren, um seine Liebesfähigkeit zu beweisen, tiefer in die Einsamkeit zurückgleitet, den Anderen aus der Ferne betrachtet, aus der unendlichen Distanz, die erst die Nähe erlaubt. Es ist diese Unnahbarkeit Rilkes, die ihm jede Unmittelbarkeit versagt, die ihm „Weib“ und „Welt“ entrückt.

Rilkes Produktivität, dies zeichnet Raddatz ganz akribisch nach, bleibt an die Stilisierung der großen und unvertretbaren Einsamkeit gebunden, an die vom Dichter immer wieder beschworene Entsagung und an die eine sich von der Wirklichkeit distanzierende Weltbetrachtung. Rilkes Seele blieb unbesiedelbar, wer sich ihm näherte, wie später seine Frau Clara Westhoff, dem verschloß er emphatisch sein Innerstes, denn ein täglich praktiziertes Zusammensein widersprach seinem Nervensystem. Er liebte nur das, was nicht zu erringen war.

Wie sein Gott, den Rilke aus der Ferne betrachtet, der sich nur in den Rändern greifen läßt, bleibt auch er der Welt fremd, zieht rastlos durch die Zeiten, heimatlos. Ganz existentialistisch ist das Leben für ihn, das Aushalten der Gottesferne, der in seiner Unbegreifbarkeit als Deus absconditus seine Werke und Geschöpfe im Stich gelassen hat. Das Stunden-Buch wird diese Anklage weiterführen, den bitteren Gesang über die, die aus der Hand Gottes fielen.

Was Rilke, so Raddatz, empört, ist die Gnadenlosigkeit Gottes, sein Schweigen. Demgegenüber fordert er in metallisch klarer Sprache das Recht auf Diesseitigkeit, wie einst Heinrich Heine. Zum Gottesbegriff Rilkes konstatiert der Interpret: „Rilke hat sich einen sehr eigenen Gott erschaffen, er ist eine Sehnsuchtsmetapher, eine mögliche Ordnung für diese Welt – die er aber in dieser Welt nicht findet.“ Der Künstler setzt sich als säkularisierter Gott an dessen Stelle, füllt die leer gewordenen Raum. Er sucht tröstendes Licht in eine Welt zu bringen, die nur Trostlosigkeit gebiert, und wie Raddatz schließt: „also der Frau Konkurrent. Frau Welt. Sie soll vorhanden, aber nicht da sein.“

„Wir müssen schon hier zwei so frühe wie tiefe, die Existenz bestimmende Prägungen Rilkes festhalten. Die Frau als Bedrohung, umschwärmt zwar in der Entfremdung, gefürchtet als Gefahr in realer Gegenwart; da der Dichter Rilke Weiblichkeit als die wahre Voraussetzung zur Produktivität sah, verriegelte er seine Pforten vor dem Weib Welt. […] Letztendlich aber bleibt beides – Weib und Welt – der Feind.“

Die beständig gesuchte Heimatlosigkeit, dieses stetige Fliehen vor der Beständigkeit, das immer nur kurze Rasten, sie bleiben letztendlich für Raddatz das Fundament aller Kreativität Rilkes. Selbst als unermüdlicher Briefeschreiber, die Korrespondenz, die er Zeit seines Lebens an seine Gönner und an das angebetete, letztendlich aber zurückweisende weibliche Geschlecht richtet, haben, wie Raddatz herausstellt, unendlich viele Adressaten, aber nur einen Empfänger, Rilke selbst. Das Leben als artifizielle Selbstbegegnung, als die harte Zäsur, die nur ein Entweder-Oder kennt, das Leben als Monolog und Selbstgespräch, das aus den endlosen Wiederholungen sich erzeugt, sie bleiben das künstlerische Lebensmotto Rilkes und hinterlassen ihre Spuren im Werk.

Daß dieser Ästhetisierungswille, dieser Drang in sich selbst zu gelangen, letztendlich jene Einsamkeit gebiert, dies war Rilke wohl bewußt, war seiner ambivalenten Natur eingeschrieben. Auch daß dieser Prozeß des sich selbst Wahrhaftig-Werdens schließlich einer ist, der ein Innerlichwerden einschließt, das sich von der hohlen Sprache verabschiedet, um eben „Sphärenmusik“ zu werden, dies hat Raddatz in aller Vortrefflichkeit nachgezeichnet. Denn: Blanke Ästhetisierungswut und die Banalität des Jugendwerkes zeigten in aller Deutlichkeit, daß „lyrische Redseligkeit“ und „Jedermannsgefühle“ leere Sprachschablonen bleiben, eine Erkenntnis, die auch Rilke machte, wenn er die Vielzahl seiner Jugendwerke verwarf.

Aus der zügellosen „Facilität“ entsteht die Kunst nur durch ein Wunder und nicht mittels der ästhetisierenden Einbildungskraft, die Nicht-Erlebtes und Nicht-Erfahrenes in eine äußerliche Hülle preßt oder in eine frömmelnde Formelsprache. Im Cornet wird Rilke reif, verliert sich das Tändelhafte und Gekünstelte der Sprache. „Dieses Rilke-Wunder ist der Cornet“, den Raddatz als Rilkes Werther feiert. Er ist es, der im Unmittelbaren geboren, endlich das Geheimnis der Kunst, ihren wundersamen Charakter, offenbart. „Der Text führt auch auf mysteriöse Weise den Umschlag von Emphase in Kargheit vor; denn emphatisch – bis an die Grenze religiöser Verzückung – war Rilkes Stimmung zu dieser Zeit.“

Auch im Liebes-Intermezzo mit der weitaus älteren Lou Andreas-Salomé, die sich, so Raddatz, für Rilkes innerliches Reife-Werden mitverantwortlich zeigte, siegte letztendlich die Einsamkeit. „Doch angekommen auf dem Grund – findet ein jeder nur sich selbst, verliert den anderen.“ Auch zu diesem Zeitpunkt bleibt Rilke hermetisch.

„Seine Wirklichkeit heißt Kunst. Und seine Liebesfähigkeit heißt Alleinsein. Er wird von nun an eine wahre Philosophie der Entfremdung entwickeln, die Nähe zum Unstatthaften dekretiert. […] Liebende als Idee einer alles überwölbenden, aber nichts berührenden Bindung, ein Phantom-Traum, der beim Erwachen in den Tag erlischt: das ist sein Konstrukt. Unlebbares Leben. Rilke vertraut der Kraft des Irrealen. Das ist schlecht für die Realität. Es ist gut für die Kunst.“ Rilkes Werk, so resümiert Raddatz „ist wie der Marmor von Adern durchzogen von Metaphern der eigenen Weiblichkeit als Quell des Schöpferischen, von der Sehnsucht nach dem Androgynen – Engel sind ja geschlechtslos – und von der Angst, seine ihm heilige Einsamkeit könnte penetriert werden.“

Aber auch Rilkes neue Sachlichkeit ist es, die Raddatz immer wieder schätzt, die dialektische Klammer zwischen „Unterwerfung und Empörung“, „Aufgezehr und Aufbegehr“, wie er es nennt, aus deren Spannung große Kunst hervorgeht. Seine Ding-Ästhetik gleiche dabei der Technik des surrealen Films, sein Malte sei ein originäres Kunstwerk, das nur wenige Assoziationen von Baudelaire, Flaubert und Nietzsche in sich aufgesogen hat.

Auch auf die tiefe Verstörung durch den Ersten Weltkrieg spielt Raddatz an, wenn er das lähmende Jahrzehnt beschreibt, den in sich zurückgeworfenen Rilke, der seine Briefe nunmehr in quälender Innenschau schreibt, gerade so, „als lege sich da einer selbst unter den Röntgenapparat; zumal auch die körperlichen Malaisen aufs Sorgsamste inspiziert werden.“ […] Die Briefe sind aber auch Notsignale, ausgeworfene Halteseile eines Losgerissenen, der sich selbst nicht mehr zu orten weiß. Der Ich-kranke Rilke kann sich diagnostizieren, therapieren kann er sich nicht.“

Einst äußerlich unruhig und rastlos hatte Rilke in der Schweiz, in seinem geliebten Muzot, Heimat gefunden. Doch wurde ihm diese Heimat nun zur Stätte innerer Unruhe, die in ihm, dem hypochondrischen Narziß, permanente Verstimmungen hervorriefen, letztendlich seine sich schon in Jugendjahren anbahnende Krankheit zum Tode, die ihn nun nicht nur emotional tiefer, sondern auch physisch bedrohlich einholte. Daß Rilke den Gedanken Leben nicht fassen konnte, ohne zugleich den Tod mit zu bedenken, war eine seiner Eigenheiten, was auch Raddatz fest untermauert, wenn er schreibt: „Rilkes Entwurf vom Leben schloß immer ein das Denken an den anderen Pol, den Tod. Wer ihn nicht einbezieht in alles, was er fühlt und tut, die Gültigkeit von Welt nicht der Endgültigkeit gegenüberstellt – der beschreibt nichts, außer bestenfalls Papier.“ Tod und Leben bleiben die Klammern dieses Dichtens, das dem Unsagbaren Ausdruck verleihen will. Der Tod bleibt die „Ergänzung zur Vollkommenheit“, ein Seinsgeschick. In Muzot, nahe Sierre, wird sich Rilke selbst geschichtlich. Sein Purgatorium beginnt ohne Engel, Himmel und Gott und endet am 29. Dezember 1926, um 3 Uhr 30, wo er im Krankenhaus in Valmont an einer zu spät diagnostizierten Leukämie stirbt.

Kurzum: Raddatz liegt nicht nur daran, Rilke als Gaukler und Geck vorzuführen, ihm seinen Adelstick als Marotte anzukreiden, ihn als Lebemann und verwöhnten Sonderling vorzustellen, sondern eben als Ästheten mit einer feingliedrigen Seele. Und er will den Dichter vom Klischee des sich „verpuppenden Weihepriesters“ herauslösen, ihn nüchtern und mittels Verstand lesen, denn Rilke ist keine „unbegreiflich geweihte Hostie“.

Was sich in seinem biographischen Essay manchmal aber dann doch zu plakativ abzeichnet, ist die Rilke suggerierte „Eigenweiblichkeit“, sein feminines Schreiben, das seinen Ursprung und seine Schuld in einer verhätschelten Erziehung hatte, im anerzogenen Frau-Sein Rilkes, dessen Mutter ihn als Mädchen erzog. Was sich diesem Befund viel eindrucksvoller entgegenstellt, ist der von Raddatz herausgearbeitete existentielle Riß in Rilkes Wesen, diese Urwunde in seinem Leben, die ihn immer wieder vorantreibt, die seine Kunst gebiert. „Er versagt sich jeglichen Glauben, an den er zugleich glaubt.“ Die Welt läßt sich nicht erlösen, auch kann Gott nicht von der Welt erlösen, sie läßt sich also nur ertragen. Nur in diesem Sein kann man in aller Vorläufigkeit wohnen, wobei es nicht die Religion ist, die dem Ich in der oft trostlos erfahrenen Welt aufhilft, sondern das sich als selbst erfühlende Ich.