Schopenhauer

von Peter Sloterdijk

Schopenhauer ist der erste Denker ersten Ranges gewesen, der aus der abendländischen Vernunftkirche ausgetreten ist. Neben Marx und den Junghegelianern war er derjenige, der den revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts in der prinzipiellsten Form vollzogen hat. Bei ihm beginnt die lange Agonie des guten Grundes; er gab den griechischen und jüdisch-christlichen Theologien einen prägnanten Abschied. Das Allerwirklichste hatte für ihn aufgehört, ein göttliches vernünftig-gerech­tes Geistwesen zu sein. Mit seiner Willenslehre springt die Theorie des Weltgrundes um vom frommen Rationalismus, wie er von Platons Tagen an in Geltung war, zu einer von Grauen und Staunen geprägten Anerkennung des Arationalen; Schopenhauer statuiert zuerst die vernunftfreie Energie- und Triebnatur des Seins. Darin ist er einer der Väter des psychoanalytischen Jahrhunderts; er könnte sich künftig noch als entfernter Schutzherr und Verwandter eines chaostheoretischen und systemischen Zeitalters erweisen. Daß er den asiatischen Weisheitslehren, dem Buddhismus zumal, mit höchstem Respekt die europäi­schen Türen geöffnet hat: darin könnte auf lange Sicht seine wichtigste geistesgeschichtliche Wirkung liegen. Mag sein, daß seine Lehre von der Resignation des Willens für den Lebenshunger der Menschheit in der heutigen ­Er­s­ten Welt noch befremdlicher klingen muß als für Schopen­hauers Zeitgenossen, die progressiven Positivi­sten und die menschheitsgläubigen Weltrevolutionäre; doch erinnert sie auch heute daran, daß der entfesselte Lebenshunger die Probleme, die sein freier Auslauf schafft, nicht durch seine weiteren Steigerungen wird lösen können. Von Schopenhauer könnte der Satz stammen: Nur die Verzweiflung kann uns noch retten; er hatte freilich nicht von Verzweiflung, sondern von Verzicht gesprochen. Verzicht ist für die Modernen das schwierigste Wort der Welt. Schopenhauer hat es gegen die Brandung gerufen. Nach ihm sind die Fragen des Ethischen radikaler als je ­zuvor offen.

Aus: Peter Sloterdijk: PHILOSOPHISCHE TEMPERAMENTE. Von Platon bis Foucault. 144Seiten, €14,95 ISBN: 978-3-424-35016-6,Diederichs Verlag