Frank Rühling

Schicksal als Gott und Kunst

Heinrich von Kleists "Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik"

1. Schicksal und Subjektivität

Als man noch einen Sinn dafür besaß, wurde das Unerklärbare durch äußere Gewalt zu deuten versucht. Dabei durfte um der Sinnhaftigkeit des Bedingten (Dasein) willen, das Bestimmende Äußere kein Zufälliges sein. Seine Deutung geschah daher in der Form der Notwendigkeit, wie sie sich u.a. im Schicksalsbegriff erhalten hat.

Schicksal ist ursprünglich das die menschliche Freiheit begrenzende Verhängnis, das unserer Macht nie restlos Verfügbare. Die griechische Mythologie bringt dieses Verhängnis zum Ausdruck in der Gegenüberstellung von tyche (Schicksal) und techné (Technik). Dabei wird das Schicksal, der von den Moiren gewirkte Lebensfaden, als Maß von techné aufgefaßt. Im Einklang beider verwirklicht sich Freiheit. Jemehr jedoch die Macht der Technik wächst, indem sie die Grenzen des Erklärbaren erweitert, desto massiver wird auch ihr Anspruch, jegliche Abhängigkeit zu überwinden. Beide Tendenzen, die Unterordnung unter ein höheres Prinzip wie auch das Aufbegehren gegen diese Unterordnung, sind in die christliche Weltauffassung eingegangen. Das Christentum enthält so von Anbeginn den Widerstreit, der nach Hegel im Protestantismus offen zu Tage tritt.

Hegel deutet die Reformation als "Rückkehr" aus dem "Jenseits der Autorität" zur Göttlichkeit der Vernunft. In ihr werde erkannt, "daß das Religiöse im Geist des Menschen seine Stelle haben muß und..., daß seine Heiligung seine eigene Sache ist." (Werke 1971, Bd. 20, 49) Vorsehung und Subjektivität verpflichten einander nicht mehr wechselweise, sondern die Subjektivität tritt allein in den Mittelpunkt der Weltdeutung. Der Kultus der Religion dient nurmehr zur Heiligung des neuen Prinzips. Das Vertrauen in die menschlichen Möglichkeiten beginnt grenzenlos zu werden. - Die in allen unbegrenzten Potenzen liegende Unwirklichkeit wird freilich übersehen. Denn wirkliche Subjektivität bedarf der Begrenzung, wie sie u.a. in der Anerkennung jenseitiger Autoritäten geschieht. Am vollkommensten sollte dies - nach katholischer Lehre - den Heiligen gelingen. Ihr in "Legenden" mitgeteiltes Leben galt als Beispiel unmittelbarer Identität mit dem göttlichen Willen.

Eine solche Heiligenlegende greift Heinrich von Kleist auf, als er im November 1810 seine Cäcilien-Erzählung verfaßt. Anlaß ist die Taufe der Tochter des Freundes Adam Müller. Jedoch handelt es sich - zumindest bei der überarbeiteten zweiten Fassung - keineswegs um eine bloße Gelegenheitsdichtung. (vgl. R. Puschmann 1988) Vielmehr entfaltet Kleist, wie in allen seinen Erzählungen, Grundprobleme des Daseins betreffende Fragen. Einem dieser Probleme, dem Verhältnis von Schicksal und Subjektivität, soll im Folgenden nachgegangen werden.

Schicksalhafte Zusammenhänge begegnen uns in Kleists Erzählung in unterschiedlichen Varianten und Bedeutungen. Sie bilden, insgesamt gesehen, einen ebenso komplexen wie differenzierten Schicksalsbegriff. - Da wäre zunächst, bereits im Titel genannt, die der heiligen Cäcilie komplementär beigeordnete Gewalt; wobei das, weil unentscheidbare, unendliche Oszillieren zwischen konjuktiver und disjunktiver Komplementarität eine besondere Spannung erzeugt. (vgl. B. Fischer 1988, 91) Gewalt steht für äußeren Zwang, absolute Notwendigkeit. Ihr Gegenteil wäre die gänzliche Ungezwungenheit des sich selbst überhebenden Willens, wie er sich beispielhaft im Ansinnen der Brüder offenbart, ein Heiligtum zu zerstören. Der äußeren Gewalt wird indes nicht die innere (Willkür), sondern eine Heiligenfigur gegenübergestellt. Und da die Heilige im Handlungsverlauf selbst als Person auftritt, verknüpft Kleist etwas prinzipiell Unvergleichbares (Person und Sachverhalt), das sich zudem durch seine Attribute (Heiligkeit und Gewalttätigkeit) auszuschließen scheint. So kommt schon dem Ansatz nach das ironische Eingeständnis des Ungewissen zum Ausdruck. Durch die Art und Weise ihrer Einbindung in den Titel der Erzählung erhält die mit Gewalt assoziierte Abhängigkeit eine weitere, für die Schicksalserfahrung konstitutive Bedeutung. Die Gewalt des Schicksals kann nicht erklärt werden. Sie verschließt sich dem Wissen und bedarf, als Wunder, des Glaubens. Doch auch dieser vermag nur zu begreifen, was er auf einen vorausgesetzten verbindlichen Zusammenhang der Weltdeutung beziehen kann. Diese Voraussetzung des Begreifens der Vorsehung eben ist in Form (religiöser) Überlieferungen (als Sage oder Legende) gegeben.

Kleist schreibt nicht nur eine Legende, sondern spielt in ihr zugleich mit der Überlieferung. Auch diese Konstituente des Schicksals stellt er sowohl in einen weltlichÄrationalen wie religiösen Kontext. Die erste Perspektive eröffnet sich im Zweck des Zusammentreffens der Brüder, der im "Erheben einer Erbschaft" besteht. (Werke 1952, Bd. 2, 231) Dieser allgemeine Zweck erfüllt sich jedoch - wie der Handlungsverlauf zeigt - in eigentümlicher, keinesfalls ursprünglich intendierter Weise. Denn das den Brüdern zufallende Erbe wird nicht die weltliche Hinterlassenschaft des "ihnen allen unbekannten Oheims" sein. (ebd.) Entgegen ihrer ungläubig ahnungslosen Erwartung, ist die sie erhebende Überlieferung ganz und gar geistlicher Art. Eine "uralte italienische Messe" (gleichfalls "von einem unbekannten Meister") erlangt für die Brüder schicksalsschwere Bedeutung. (ebd. 232 f.) - Offenkundige Ironie des Schicksals konterkariert die Handlungsintention. Zugleich wird als Indiz für die "Schuld" der Brüder ihre Mißachtung des Unbekannten (dessen, was Novalis treffend das heilige Nichts nennt) vorgeführt. Ehrfurcht vor dem Unbekannten scheint gefordert, will man der Ironie des Schicksals entgehen.

2. Fest und Göttlichkeit

Nicht zufällig ereignet sich das Wunder der Läuterung der von Hybris ergriffenen Brüder in Kleists Erzählung am Tage des Fronleichnamsfestes, das 1246 auf Veranlassung des Bischofs von Lüttich zum Zeichen der Widerlegung der Ketzer eingeführt wurde. In der Erinnerung an den heiligen (vrôn) lebenden Leib (lîchnam) des Herrn sollte Sühne geübt werden für die Vernachlässigung des heiligen Eingedenkens der göttlichen Allmacht. Darin offenbart sich die ursprüngliche Auffassung von Festlichkeit, wonach Feste die alltägliche Lebensweise des Menschen "so zurechtrücken, daß die tragenden Orientierungen in Erinnerung gerufen werden." (R. Bubner in W. Haug/R. Warning 1989, 652) Vermittels einer Ästhetisierung der Lebenswelt geschieht im Fest die Rückbindung des Alltagsbewußtseins an den eigentlichen Sinn. Das "Aussetzen der üblichen Belastungen eröffnet einen Wechselverkehr... mit den Göttern." (ebd.) Feste tragen so ihren Zweck nicht unmittelbar in sich, sondern dienen der Aufrechterhaltung einer göttlichÄharmonischen Weltordnung. Dazu muß jedoch der Gegenstand der Erinnerung in seiner Bestimmtheit vorausgesetzt sein, da sonst die im Fest offenbare Freiheit nicht zum Gefallen Gottes ergriffen werden könnte. "Gegenstandslose" Freiheit verfehlte den göttlichen Willen (Schicksal) und würde ihn also nurmehr als Zwang erfahren.

Zwang (Gewalt) bezeichnet die Art und Weise, in der das Schicksal den (sie kamen aus Wittenberg und Holland) vom Protestantismus "verketzerten" Brüdern vordergründig entgegentritt. Göttlicher Zwang führt aber - als Zwang zu Gott - sein Gegenteil, das Heil, immer schon mit sich. So erscheint die "Strafe" der Brüder äußerst ambivalent.

Der Betrachter kann sich des "entsetzlichen" Eindrucks der von dem Wunder göttlicher Läuterung heimgesuchten Brüder nicht erwehren. Was - als festliches Eingedenken Gottes - lediglich "Moratorium des Alltags" (O. Marquard) sein sollte, erfüllt ihr Dasein ganz und gar. Ein immerwährendes Fest verfehlt indes seinen Zweck, die Ermöglichung sinnhaften alltäglichen Lebens, dadurch, daß es zur Normalität nicht zurückfindet. Dieser Verlust des Alltags vermittelt ein "äußerst trübseliges und melancholisches" Bild vom Dasein der Brüder. (Werke a.a.O. 235) Mehrfach bezeichnet es Kleist als "unglücklich", "jammervoll"... Etwas "Schreckliches, fähig, ihr innerstes Gemüt... umzukehren", sei ihnen "zugestoßen". (ebd. 238) Ihr diesseitiges Leben ist nun vollständig dem Jenseits zugewandt. Sie führen ein "ödes, gespensterartiges Klosterleben," dessen einzige lebendige Äußerung das allmitternächtliche Intonieren des "gloria in excelsis" aus jener "uralten italienischen Messe" bildet. (ebd. 240) Paradoxerweise aber mißlingt gerade diese Inszenierung göttlicher Offenbarung. Der eigentliche Sinn des Festes geht verloren. Der Gesang der Brüder hört sich "entsetzlich", "gräßlich" an (ebd. 239); wohingegen ihrem "gespensterartigen Treiben" eine "sehr ernste und feierliche Heiterkeit" eignet. (ebd. 235)

So scheinen die Brüder das Göttliche, das ihnen am Fronleichnamstag "zugestoßen" war, später vergeblich zu erneuern zu suchen. Die Erde läßt sich post festum nicht wieder zum Paradies machen. Doch kann auch das einmal Offenbare schwerlich aus dem Bewußtsein getilgt werden. Da also die Brüder einmal, vermittels der "Gewalt" göttlicher Musik, mit dem Höchsten, alles irdische Dasein Niederschlagenden, in Verbindung gestanden hatten, vermögen sie diese ihre irdische Existenz nurmehr als GottesÄDienst zu begreifen. Alles andere, nicht unmittelbar auf Gott gerichtete, erscheint ihnen als unwahr... Daher ihr "Mitleid" mit der Außenwelt. (ebd. 236)

Freilich jedoch können die Brüder ihre Begrenztheit (Menschlichkeit) nicht aufheben. Ihr GottesÄDienst versagt vor dem Höchsten und bleibt Versuch. Damit erhält die Heiligkeit der Brüder groteske Züge und steht so im krassen Gegensatz zur echten Heiligkeit, wie sie während des kirchlichen Festes geschah.

Dieser Gegensatz wird durch die Charakterisierung der unter "Direktion" Schwester Antonias aufgeführten Musik evident. - Sie führt "die Seelen... durch allen Himmel des Wohlklangs." (ebd. 234) Irdisches und Himmlisches verschmelzen - wenn auch nur für Augenblicke - miteinander. Das irdische Dasein wird gleichsam aufgehoben. Beim Erklingen des "gloria in excelsis" ist es, "als ob die ganze Bevölkerung der Kirche tot sei." (ebd.)

Nach ihrer Lähmung durch die Wunderkraft der Musik werden die "vier gottverdammten Brüder" als jene "grotesken Heiligen" wiedergeboren, die sich vergeblich darum bemühen, ihre Seelen erneut in den Himmel zu erheben. Auch hier scheitert die Subjektivität an der göttlichen Ordnung der Welt. Das Göttliche auf Dauer festhalten zu wollen, wär eine ebenso lästerliche Selbstüberhebung, wie es zu ignorieren. Jedoch tritt die Selbstüberhebung als "radikale Selbstaufhebung" in Erscheinung. (vgl. B. Fischer a.a.O. 98) Das eigene Dasein verliert jegliche Bedeutung. "In Freuden" nehmen die Brüder ihr Schicksal hin. Hinnahme wird gleichsam zur Hingabe. - Ohne Opfer scheint keine göttliche Offenbarung auf Erden möglich. Auch Schwester Antonia wird dem Wunder, das mehr mit ihr als durch sie geschieht, geopfert. Ihre "plötzliche" Erholung von einem Nervenfieber, so daß sie die "Direktion" der Messe übernehmen kann, ist nur Äußerlichkeit, Schein. Was sie zu vollbringen scheint, geschieht nicht kraft ihrer selbst, sondern - wie man später vermutet - durch Wirkung der heiligen Cäcilie. Denn es läßt sich erweisen, daß Schwester Antonia "während des ganzen Zeitraums" der Aufführung der Messe "krank, bewußtlos, ihrer Glieder schlechthin unmächtig, im Winkel ihrer Klosterzelle darniedergelegen habe." (Werke a.a.O. 243) - Eine ganz andere Antonia tritt im Dom auf. Im Gegensatz zur ohnmächtigen bloßen Leiblichkeit der kranken Schwester Antonia "glüht" jene vor Begeisterung, ist nichts anderes als GeistesÄErscheinung; nicht aber vermöge der eigenen Geisteskraft, sondern begeistert vom "heiligen Geist" der Cäcilie...

Das Motiv der Opferung entspricht einem ursprünglichen Fronleichnamsbrauch. Indem Kleist dieses Motiv aufgreift und die Erfahrung Gottes konsequent von ihm abhängig macht, ironisiert er alles Streben nach dem Absoluten (Gott). Opfern heißt bei ihm immer, sich selbst zu opfern. Gott fordert nicht nur Opferbereitschaft, sondern tatsächliche Überwindung der eigenen irdischen Existenz. Die Selbstopferung kann durch kein Zeichen ersetzt werden. Ritus und Realität koinzidieren.

Was in der Inszenierung des Festes erreicht wird, ist dagegen stets nur ein Surrogat Gottes in der Idee. Als KunstÄWelt erreicht das Fest lediglich unsere Ideen, nicht das Sein Gottes. Das Fest ist bloße Erinnerung. Die Offenbarung Gottes liegt allein in seiner Gnade und kommt wundersam unberufen über uns. Doch wenn uns diese göttliche Gnade zuteil wird, besitzen wir uns selbst nicht mehr. Wir befinden uns dann in einem somnambulen Zustand außer uns, auf der anderen Seite und sind also gleichsam tod.

Das Wissen von einem Höchsten erweist sich so als paradox. Gegenstand und Inhalt (Intention) des Wissens sind verschieden. Als Inhalt ist das Höchste nicht zugleich Gegenstand. Die Gestalt des Absoluten bleibt dem Wissen ewig verborgen. Es müßte sich in seiner Bedingtheit als Wissen aufheben, um diesem Paradox zu entkommen. Da aber alles Wissen am Selbst hängt, ist also - mit Novalis gesprochen - die Selbsttödtung der ächtphilosophische Akt. Und so können die vier Brüder schließlich "eines heiteren und vergnügten Todes" sterben. (ebd. 244)

3. Begreifbares und Unbegreifbares

Feste sind Ausnahmesituationen vom Alltag. In ihnen gelten eigene Gesetze, und umso schwerer fällt es, die Ereignisse eines Festes aus dem Alltag heraus zu verstehen. Das gilt erst recht, wenn es sich beim Fest nicht nur um eine subjektive Inszenierung (Kunst) handelt, sondern die zu erinnernde äußere höhere Macht sich selbst in Szene setzt. Dementsprechend müssen in der Begegnung mit dem Schicksal (als ererbter Gewalt) prinzipiell zwei Perspektiven der Wahrnehmung unterschieden werden. Die Innenperspektive des unmittelbaren Miterlebens und die, sowohl räumlich als auch zeitlich, äußere Betrachtung der Szenerie. Jene erlebt den Einfall des Schicksals (als Gott) durchweg positiv. "Tiefe, unaussprechliche Rührung" erfaßt die Brüder in der beständigen Ausübung ihres "GottesÄDienstes" - wie auch die "ganze Bevölkerung der Kirche" an dem VerhängnisÄvollen Fronleichnamstag. Ganz anders dagegen die Wahrnehmung derselben Ereignisse in der Außenperspektive. Nicht nur die Verwandlung der Brüder wird mit Bedauern und Schrecken registriert; auch der einstige Schauplatz göttlicher Offenbarung erscheint der Mutter der Brüder sechs Jahre später "entsetzlich". (ebd. 240) Allerdings vermischen sich in der Wahrnehmung der Mutter Außen- und Innenperspektive. In diesem von Kleist luzide dargestellten Wechsel offenbart sich der entscheidende Unterschied beider Perspektiven. Während die Außenperspektive von rationaler Erwartung und begrifflich organisierter Weltdeutung dominiert wird, erweist sich die Innenperspektive gegenüber aller Vormeinung als naiv. In dieser Naivität gründet ihre Autonomie. Keine subjektiven Konstrukte verstellen ihren Blick. Ergriffen vom Ereignis bleibt der Betrachter im Zustand der epoch.

Um den als "entsetzlich" begriffenen Schauplatz des ZuÄGrundeÄGehens ihrer Söhne nicht nur in Augenschein zu nehmen, sondern dem Grund selbst näher zu kommen, wendet die Mutter sich dem Dom zu. Doch dessen "Eingang" ist "versperrt". Hineinzusehen, der unverstellten Wahrheit inne zu sein, erfordert Anstrengung. "Mühsam" muß sie sich erheben, "durch die Öffnung" der den Blick verstellenden Bretter das "Innere" der Kirche wahrzunehmen. Darin sieht sie "eine prächtig funkelnde Rose im Hintergrund" - Symbol der Schönheit wie auch der Leiden des Zugrundegehens zu Gott. Und ganz hingegeben an die Arbeit (ihr weltliches Geschäft) singen - am selben Ort, wo sich durch "himmlische Musik" die Verurteilung zu "gräßlichem" Gesang vollzog - Handwerker "fröhliche Lieder". (ebd. 244) Paradoxer, ironischer könnte das Schicksal sich kaum äußern. So kommt der Perspektivenwechsel in der Wahrnehmung der Mutter nicht wirklich zustande. Ihr Standort bleibt äußerlich (außerhalb des Doms), während ihr Blick nach innen sich richtet. Leib und Blick befinden sich gegeneinander im Widerspruch; wobei der Leib den Blick bestimmt, indem er ihm eine Perspektive gibt. Ein ähnlicher Widerspruch eignet auch dem Geist für sich in seiner schwebenden Haltung zwischen Begreifbarem und Unbegreifbarem.

Aus dem Unbekannten und Unbegreilichen entstammen sowohl das von den Brüdern "erwartete" Erbe als auch die sie tatsächlich ereilende Gewalt der Musik. Die Metaphern des Schicksals bezeichnen ebenso Unbegreifbares wie Grundlegendes. Der Grund, was aus der Tiefe rührt, ist unaussprechlich. (vgl. "wie in tiefer, unaussprechlicher Rührung", ebd. 237) Dabei kann er doch, wenn irgendein Sinn des Geschehens bestehen soll, nicht bloße Fiktion sein. Und so muß der Grund, als unbegreifbare Realität, geglaubt werden. Der Glaube also vermittelt den realen Grund des Begreifbaren, das nun erst im Grunde begriffen ist.

Kraft ihres Glaubens lösen sich der Äbtissin sowie dem Erzbischof die "unbegreifbaren Geschehnisse" des Fronleichnamstages auf; beide begreifen, "daß die heilige Cäcilie selbst dieses zu gleicher Zeit schreckliche und herrliche Wunder vollbracht habe." (ebd. 243 f.) - Dennoch wird die Distanz zwischen irdischen (natürlichen) Erklärungen und himmlischem Begreifen nicht aufgehoben. Gemessen an irdischen Maßstäben bleibt das Wunder als solches bestehen.

Die Geltung der Naturgesetze vorausgesetzt, hätte weder die heilige Cäcilie noch die todkranke Schwester Antonia die Aufführung der Messe leiten können. Die Ereignisse erschienen unter dieser Voraussetzung als bloße Täuschung. Nun sind aber die Aufführung der Messe, ebenso wie ihre wundersame Wirkung auch nach wissenschaftlichen Maßstäben unbezweifelbare Realitäten. Die reine Wissenschaft führte in eine Aporie.

Auch die Mutter der vier "schwerverirrten" Brüder ist auf dem Wege, das Geschehen als Wunder zu begreifen. Wie schon am Eingang des Doms wandelt sich aber ihre Außenperspektive bei Annäherung an das Wunder nicht vollends. Zwar steht sie nun nicht mehr außerhalb des Gotteshauses; die Äbtissin läßt sie ins "klösterliche Wohngebäude" zu sich "herauf" bringen. Doch auch im Innern des Hauses seiner Dienerinnen findet die Mutter nicht unmittelbar zu Gott. Die Vermittlung scheitert an der Differenz des Glaubens. - Weil die Mutter Protestantin ist, könne sie die Mittel, derer sich Gott zur Vollbringung seines Wunders bedient hat, nur "schwerlich begreifen", obgleich die "fürstliche Dame" (die Äbtissin) ihr manches "darüber sagen könnte." Und da sie die Mittel nicht begreift, kommt die Mutter auch diesmal über ihre mittlere Position zwischen Irdischem und Göttlichem nicht hinaus. Sie hat das Göttliche im Sinn, ohne daß es begriffen würde. Dennoch gelangt sie am Tag ihrer Einkehr in die Heimstatt Gottes zur "unendlichen Regung von Demut und Unterwerfung unter die göttliche Allmacht", bevor sie schließlich ein Jahr später "in den Schoß der katholischen Kirche zurückkehrt." (ebd. 241 ff.)

4. Wissen und Vergessen. Die Ironie des Schicksals

Die Ironie des Schicksals besteht darin, daß man es ohne Selbstaufgabe nicht meistern kann. Subjektivität und Schicksal lassen einander nie vollkommen vereinigen. Obwohl das Ich um seine gründende Abhängigkeit von einer höheren Macht als es selbst ist weiß, entzieht sich diese Macht seinem Bewußtsein. Es kann daher das Schicksal nicht wissend ergreifen, was fatale Folgen für die Selbstbestimmung hat, die dadurch ganz im Virtuellen verhaftet bleibt. Diese Virtualität des Subjekts findet ihren Ausdruck in den modernen Szenerien der KunstÄWelten, denen die Illusion absoluter Freiheit zugrunde liegt. Eigentlicher Ort der Illusion ist der Alltag, während die gleichfalls künstliche Welt der Feste gerade darin ihren Sinn hat, an ein Höheres zu erinnern. Doch die Erinnerung vermittelt den intendierten grundlegenden Zusammenhang nur mittelbar, in Sagen oder Legenden, die das Wissen - seit sie "Gegenstand" der Literaturwissenschaften wurden - gleichfalls nur als Kunstprodukte erfaßt. Wer keinen Glaubensvorschuß aufzubringen vermag, für den verliert die Legende ihre sinnstiftende Kraft; sie wird zur "bloßen Legende" und die "Entstehung einer Legende" ihrerseits als Legende erkannt. (vgl. B. Fischer a.a.O. 91) In diese Ironie mischt indes Kleist - Selbstironie. Als "Legende einer Legende" hebt er zwar die ursprüngliche Legende ironisch auf. Allerdings handelt es sich dabei um eine wesentlich bewahrende Aufhebung, die selbst wieder Legende ist. Die krisis schwankt zwischen BesserÄWissen und NichtÄWissen.

Als vorrangiges Ziel der zweifelnden Ironie Kleists erweist sich immer wieder die Frage nach dem Verhältnis von Gott und menschlichem Glück. Eine echte Heiligenlegende würde diesbezüglich keine Zweifel aufkommen lassen. Ganz anders bei Kleist. - Wenn Gottes nicht nur gedacht wird, sondern er sich direkt in Erinnerung bringt, so doch in einer verwirrenden Aufführung. - Vor allem in Bezug auf die Brüder fehlt jede Eideutigkeit von Gottes Gericht, so daß selbst die fürstliche Mittlerin Gottes (die Äbtissin) nicht umhin kann, das ereignete Wunder "zu gleicher Zeit" herrlich und schrecklich zu nennen. Die Schwerverirrten werden einerseits geläutert. Aber ihre Läuterung erfolgt nicht direkt bei Gott, sondern "vor" dem Dom... wenngleich sie von dessen Innerem ausgeht. Daß diese örtliche Differenz nicht ohne Gewicht ist, wird später beim Gewitter deutlich, das sich gleichfalls außerhalb der Kirche abspielt, jedoch in seiner Beschreibung durchaus für das Bewirken ambivalenter Wunder in Frage kommt. Indem es "kraftlose Blitze" gegen den Dom "schleudert" assoziiert es Widerstand gegen Gott, während seine "vergoldeten Ränder" ikonographisch als Sinnbild der Läuterung und des Heils gelten. (vgl. F. Schlegel, KFSA IV, 266) Auch äußert sich das Heil der Brüder (ihre Heiligung) als Krankheit. Eine Krankheit, die Todsünde Superbia, wird lediglich durch eine andere ersetzt. Als "durchdrungen von heiligen Liebesflammen und himmlischem Mitleiden" wären die Brüder wirkliche Heilige. Ihnen fehlt jedoch deren "liebevolle Teilnahme... an dem irdischen Streben nach dem Göttlichen." (ebd. 265) Ihre irdische Existenz, die sie gleichwohl nicht zu überwinden vermögen, gilt den Brüdern nurmehr als Gegenteil der absoluten göttlichen Welt. Sie heben daher jene Welt radikal auf, ohne sich über wie erheben zu können.

Worin man wesenhaft gründet, das läßt sich allein in Selbstvergessenheit tilgen. Damit erweist sich die mit den Brüder vollzogene Erhebung selbst von ihrer heiligenden Seite her als regressiv. Menschliche Unvollkommenheit wird nicht in einer Synthesis mit dem Absoluten wirklich bereinigt. Reinigung geschieht als Auslöschung. Die Selbstvergessenheit bedeutet einen "Rückfall" in die "mechanische Bewußtlosigkeit des Tierhaften", die allerdings die selben Symptome aufweist wie ein göttliches Bewußtsein. (vgl. B. Fischer a.a.O. 98) Von der Spaltung des Selbst scheint nur ein Weg zur Identität zu führen. Der aber fordert Vergessenheit und kann daher nicht bewußt gegangen werden. Seine unbewußte Verfolgung hingegen unterdrückte die Seele und wäre insofern gleichfalls ungeeignet, den Widerspruch von Leib und Seele zu harmonisieren. Die Identität würde lediglich unter Absehung von der Problemsituation errungen.