Wissenschaftliche Äußerungen müssen verständlich sein. Das ist keine hinreichende, wohl aber eine notwendige Bedingung für Wissenschaftlichkeit. Einige kanonische Texte der ‚real existierenden’ Geisteswissenschaften sind aber unverständlich, auch für den qualifizierten Leser. Das betrifft ganz besonders die Literaturwissenschaft. Nach allgemeinen Überlegungen zum Kriterium ‚Verständlichkeit’ wird ein prominentes Beispiele unverständlicher ‚wissenschaftlicher’ Prosa: Ihab Hassans The Postmodern Turn (1987) vorgestellt. Dann werden Vermutungen darüber angestellt, wie es geschehen kann, dass unverständliche Texte als ‚wissenschaftlich’ gelten.
Darüber, was Wissenschaft sei, lässt sich streiten.1 Eine Ende der Debatte ist nicht in Sicht, und dies, obwohl der Begriff ‚Wissenschaft’ seit mindestens einem Jahrhundert Gegenstand sorgfältiger Reflexionen ist. Im gegebenen Rahmen einen Lösungsvorschlag zu formulieren, wäre vermessen. Aber einen Aspekt des Problems einer isolierten Betrachtung zu unterziehen, das kann gelingen: Es gilt, die These zu entfalten, dass ‚Verständlichkeit’ als Minimalbedingung für Wissenschaft anzusehen ist. Genauer: Nur ein verständlicher Text kann als wissenschaftlicher Text gelten. Ich schlage vor, dieses Kriterium folgendermaßen zu deuten: Verständlich ist ein Text, wenn der Leser ihn paraphrasieren, d.h. in die eigene ‚Sprache’, das eigene theoretische Vokabular, übersetzen kann. Die Angemessenheit von Übersetzungen festzustellen, ist allerdings schwierig. Sollen Autorintentionen als Prüfstein fungieren? Soll der Konsens der Leser maßgeblich sein? Beide Vorschläge werfen Probleme auf: Autorintentionen können nur sprachlich mitgeteilt werden, sind also ihrerseits auf Interpretation, auf Übersetzung angewiesen. Andererseits wird die Kreativität der Forschung eingeschränkt, wenn der Konsens der Leser (oder ein Mehrheitsentscheid) den Prüfstein abgibt. Wie sollten dann originelle, neuartige Lesarten gewürdigt werden? Auch fragt sich, wann ein solcher Konsens empirisch jemals anzutreffen ist. So liegt es nahe, auf ein Angemessenheitskriterium zu verzichten. Entscheidend ist, ob der Leser sich überhaupt in der Lage sieht, einen Text zu ‚übersetzen’. Doch welcher Leser? Vielleicht ist die folgende Deutung vertretbar: Ein Text ist verständlich, wenn ihn derjenige Leser versteht (d.h. übersetzen, paraphrasieren kann), der die Bedeutung der verwendeten Ausdrücke innerhalb der betreffenden Wissenschaftssprache kennt und diese Ausdrücke in einer ‚zünftigen’, den etablierten Standards dieser Sprache gemäßen Weise verwenden kann.2 Dieses Kriterium darf großzügig ausgelegt werden: Die Übersetzung darf Zeit beanspruchen, Lücken aufweisen (d.h., einzelne Ausdrücke dürfen unübersetzt bleiben), darüber, wie einzelne Ausdrücke übersetzt werden sollen, darf ein Dissens unter den Lesern bestehen. Ein Text aber, dessen Übersetzung Jahre beansprucht, der zum größeren Teil unübersetzt bleibt oder weit reichenden Dissens erzeugt, ist unverständlich. (Hier geht es wohlgemerkt nicht um einen Dissens über die Bewertung des Textes, z.B. die Richtigkeit seiner These.) Ein solcher Text kann zwar Gegenstand einer wissenschaftlichen Lektüre werden: Möglicherweise handelt es sich um ein literarisches Kunstwerk. Wissenschaftlich ist er aber in keinem Fall.3 Auch ist zu beachten, dass ein Text, um als verständlich zu gelten, in einer weitgehend stimmigen, kohärenten Weise übersetzbar sein muss – andernfalls handelt es sich nicht um ein und denselben, sondern um mehrere Texte.
Betrachten wir ein Buch, das sich selbst innerhalb des literaturwissenschaftlichen Diskurses platziert und meistens so rezipiert wird – ohne dass das Kriterium ‚Verständlichkeit’ erfüllt würde: Ihab Hassans The Postmodern Turn. Diese Wahl ist kein Zufall, ist der Diskurs um ‚Postmoderne’ doch von notorischer Begriffsverwirrung geprägt. Der ‚Postmoderne’-Diskurs ist aber lediglich die ‚Spitze des Eisbergs’. Sein Diskussionsstil ist charakteristisch für eine Vielzahl literaturwissenschaftlicher Wortmeldungen: Das betrifft weite Teile des New Historicism, der Cultural und Gender Studies, der Diskursanalyse, Dekonstruktion und Systemtheorie.
The Postmodern Turn setzt mit einem „Prelude to Postmodernism“ ein. Hassan stellt klar, dass er ‚PM’ für einen tauglichen kulturdiagnostischen Begriff hält:
“Though postmodernism may persist, like modernism itself, a fiercely contested category, at once signifier and signified, altering itself in the very process of signification, the effort to speak it cannot be wholly vain. […] In our pluralist and dialogical universe there may be no alternative to such transactions.” (Hassan 1987, xii)
Vor diesem Hintergrund wird fraglich, ob ‚PM’ als Begriff, als „Kategorie“ gelten kann. Wie ist mit einem ‚Begriff’ umzugehen, der Signifikant und Signifikat ist? Nimmt man Hassan beim Wort, dann bezieht sich ‚PM’ auf nichts anderes als auf sich selbst. ‚PM’ ist gleichsam ‚tautologisch’ verfasst und darum schlicht trivial, ohne Aussagekraft. Wie ist zu erklären, dass ein Begriff, der immer dasselbe bedeutet: sich selbst, im Vollzug des Bedeutens seine Bedeutung verändert? Woher bezieht Hassan die Gewissheit, dass das Bemühen PM „auszusprechen“ nicht völlig vergeblich sein kann? Was meint „pluralist and dialogical universe“? Sollte Hassan einer ‚dialogischen Kosmologie’ anhängen? Aber wer ist sein Gesprächspartner? Oder ist „universe“ metaphorisch zu deuten: Meint es den ‚Raum’ des Diskurses? Das liegt am nächsten, doch warum sagt Hassan nicht, was er ‚eigentlich’ meint? Sollte es allzu trivial scheinen? Schließlich ist es keine neue Erkenntnis, dass der akademische Diskurs vom Meinungsstreit bestimmt ist. Demnach wird zitierter Passus seinem Anspruch, die Voraussetzungen der folgenden Darstellung zu klären, mitnichten gerecht. Er schafft im Überfluss Probleme. So stellt er lediglich klar, was den Leser erwartet: unverständliche Prosa. Hassan selbst aber meint, den Erfordernissen der Wissenschaftlichkeit Genüge zu tun:
“I have preferred to admit my complicity with postmodernism […] without renouncing the exigencies of clarity and criticism.” (xii)
Wenig später desavouiert Hassan dieses Desiderat:
“All this, I realize, will satisfy no one who requires a more exact “definition“ of postmodernism. But human actions trace no perfect circle or square; as historic events they escape axiomatic definition. Postmodernism, like any other movement – say romanticism, nearly as moot – is a complex of cultural actions. Such actions also resist sharp differentiation from other actions they assume. Thus any particular trait of postmodernism may find precursors in other eras, other movements. This, I suspect, is true of any single trait in any cultural movement.” (xv)
Gern wüsste man, was “Definitionen” im Allgemeinen von “axiomatischen Definitionen“ unterscheidet. Auch wäre von Belang, ob „precursors“ auf Übereinstimmungen oder bloße Ähnlichkeiten abhebt. In beiden Fällen müsste der ‚Erkenntniswert’ von Begriffen wie ‚PM’ weit detaillierter begründet werden, denn dass Begriffe noch etwas ‚bedeuten’, wenn sie ausschließlich unspezifische Merkmale umfassen – solche, die auch anderen Begriffen zukommen –, ist keineswegs sicher. Gewiss, die Kombination unspezifischer Merkmale könnte eine spezifische sein. Aber gerade dann wäre man auf Definitionen angewiesen, die die Eigenart dieser Kombination beschreiben. Definitionen sind aber mit Hassan nicht zu haben. Wissenschaft kommt ohne sie aus:
„Aristotelian definitions – man is a thinking biped, etc. – can hardly apply to our cultural histories. How, then, proceed without definitions? Conventionally, pragmatically, as we have always done, by consuetude. The Postmodern Turn tilts that way; it clarifies by putting essential terms, ideas, contexts of postmodernism into wider play.“(xvi)
Dass Hassan selbst sich an diese Maximen hält, ist zu bezweifeln: Eine Konvention für den Gebrauch von ‚PM’ lässt sich einzig durch Definitionen festlegen, und Reflexionen über den praktischen Wert möglicher Redeweisen finden sich in The Postmodern Turn selten. Auch fragt sich, weshalb „Definitionen“ einem wissenschaftlichen Diskurs nicht angemessen sein sollten. Sind all jene zu disqualifizieren, die Definitionen vorschlagen? Hassan empfiehlt, sich an die überlieferte Wissenschaftspraxis zu halten („as we have always done“). Aber wenn sich nichts ändern soll, weshalb dann all diese Anstrengungen? Weshalb eine neue, postmoderne, Ära verkünden, wenn alles beim Alten bleibt? Doch die Verwirrung lässt sich noch steigern: So äußert Hassan Zweifel, ob jemals eine Gesamtschau, ein Muster („pattern“) von PM gegeben werden kann:
“Will these international tendencies [postmoderne Tendenzen] ever coalesce into some coherent pattern?” (xvi)
Man geht nicht fehl, darin eine rhetorische Frage zu sehen. Doch im nächsten (!) Satz, schlägt Hassan just ein „pattern“ für PM vor:
“For the moment, the only pattern I can propose is the pattern that the essays selected here internally render. In this pattern I discern: indeterminacy and immanence; ubiquitous simulacra, pseudo-events; a conscious lack of mastery, lightness and evanescence everywhere; a new temporality, or rather intertemporality, a polychronic sense of history; a patchwork or lucid, transgressive, or deconstructive, approach to knwoledge and authority; an ironic, parodic, reflexive, fantastic awareness of the moment; a linguistic turn, semiotic imperative, in culture; and in society generally, the violence of local desires diffused into a technology both of seduction and force. In short, I see a pattern that many others have also seen: a vast, revisionary will in the Western world, unsettling, resettling codes, canons, procedures, beliefs – intimating a posthumanism?” (xvi)
Kann eine Aneinanderreihung unverbundener Merkmale als “pattern” gelten? Auch fragt sich, was „patterns“ von „Definitionen“ unterscheidet. Könnte es sein, dass es sich um einen (spektakulär scheiternden) Definitionsversuch handelt, der freilich als solcher nicht deklariert werden darf, weil Definitionen als obsolet disqualifiziert wurden?
Eine der vielerlei Definitionen wird in besonderer Weise mit dem Namen Hassans verbunden:
“The time has come, however, to explain a little that neologism: „indetermanence“. I have used that term to designate two central, constitutive tendencies in postmodernism: one of indeterminacy, the other of immanence. […] Their interplay suggests the action of a “polylectic”, pervading postmodernism. […] By indeterminacy, or better still, indeterminacies, I mean a complex referent that these diverse concepts help to delineate: ambiguity, discontinuity, heterodoxy, pluralism, randomness, revolt, perversion, deformation. The latter alone subsumes a dozen current terms unmaking: decreation, disintegration, deconstruction, decenterment, displacement, difference, discontinuity [sic], disjunction, disappearance, decomposition, de-definition, demystification, detotalization, delegitimization – let alone more technical terms referring to the rhetoric of irony, rupture, silence. Through all these signs moves a vast will to unmaking, affecting the body politic, the body cognitive, the erotic body, the individual psyche – the entire realm of discourse in the West.” (92)
Damit ist die erste der beiden Komponenten von „indetermanence“ ‚umschrieben’. Nun gilt es, der zweiten Kontur zu verleihen:
“[…] I call the second major tendency of postmodernism immanences, a term that I employ without religious echo to designate the capacity to generalize itself in symbols, intervene more and more into nature, act upon itself through its own abstractions and so become, increasingly, im-mediately, its own environment. This noetic tendency may be evoked further by such sundry concepts as diffusion, dissemination, pulsion, interplay, communication, interdependence, which all derive from the emergence of human beings as language animals, homo pictor or homo significans, gnostic creatures constituting themselves, and determinedly their universe, by symbols of their own making.” (93)
Mit jedem Merkmal, jedem “concept”, steigt die Verwirrung. Wie könnten all diese Merkmale auch nur dem Assoziationsbereich ein und desselben Begriffs zugeordnet werden? Wie könnten sie jemals zur Klärung des fraglichen Sachverhalts: PM beitragen?
Hassan greift aber noch weiter aus:
“One may well wonder: is some decisive historical mutation – involving art and science, high and low culture, the male and femal principles, parts and wholes, involving the One and the many as pre-Socratics used to say – active in our midst? Or does the dismemberment of Orpheus prove no more than the mind’s need to make but one more construction of life’s mutabilities and human morality? And what construction lies beyond, behind, within, that construction?” (94)
Diese Belege machen hinreichend klar, dass auch der ‚ideale Leser’ Hassan nicht verstehen kann – selbst wenn er mit allen Wassern der Dekonstruktion und des Poststrukturalismus gewaschen sein sollte. Unverständlichkeit ist eine gleichsam ‚objektive’ Eigenschaft des fraglichen Textes. Nicht einmal ein Bemühen um Verständlichkeit ist erkennbar. Die gängige Floskel, dergleichen sei ironisch aufzufassen, nicht ‚beim Wort zu nehmen’, hilft keineswegs weiter: Was bleibt, sieht man vom ‚Beiwerk’ ab? Worin liegt der Erkenntniswert solcher Einlassungen? Sind Hassans Ausführungen geeignet, jene Werke der Literatur zu erhellen, die man ‚postmodern’ nennt? Oder bleiben sie ‚gegenstandslos’? Vor allem aber: Wie lässt sich ‚Sinn’ daraus ‚machen’? Wie ist die Geltung des Gelesenen zu prüfen? Oder ist alles gleich in der Wissenschaft?
The Postmodern Turn ist unverständlich, nicht wegen des Unvermögens der Leser, sondern aufgrund einer Beschaffenheit, die es unmöglich macht, eine stimmige Übersetzung anzufertigen. Dieser Text ist also entschieden unwissenschaftlich. Fast lässt sich ein ‚privatsprachlicher’, ‚solipsistischer’ Zug konstatieren. Wie anders ist ein Autor zu charakterisieren, den ‚niemand verstehen kann’? Tatsächlich muss es verwundern, dass Hassan als einer maßgeblichen Literaturwissenschaftler unserer Tage gilt. Sollte in manchen Milieus zeitgenössischer Literaturwissenschaft jeder Text als verständlich gelten, an den in irgendeiner Weise angeschlossen werden kann? Sollte das Kriterium ‚Kohärenz’ aufgegeben worden sein, ein Text schon darum als verständlich gelten, weil einzelne Aussagen übersetzbar sind? Wird die Haltlosigkeit solcher ‚Wissenschafts’-Praxis durch Intransigenz gegen Kritik kompensiert? (Wo keine These ist, kann keine Widerlegung sein.) Der Hinweis, solcherlei Prosa sei unwissenschaftlich, wird oftmals als Ausdruck bornierter Voreingenommenheit abgetan. Das ist von Nachteil für kritische Geister. Noch mehr für die Wissenschaft.
Ihab Hassan: The Postmodern Turn, Ohio 1987.
Wolfgang Welsch: Wege aus der Moderne: Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988.
1 Das gilt selbstverständlich auch für die damit zusammenhängenden Fragen: Was unterscheidet Geistes- und Naturwissenschaften? Können Theorien falsifiziert werden? etc.
2 Beispiele wären die Sprache der Philosophie oder der Literaturwissenschaft, spezifischer: die Sprache der Analytischen Philosophie oder der Positivistischen Literaturwissenschaft.
3 Eine hinreichende Bedingung für Wissenschaftlichkeit ist Verständlichkeit nicht, denn auch von polemischen, journalistischen oder lebensweltlichen ‚Gebrauchs’-Texten wird Verständlichkeit erwartet.