(Mersin/Türkei)
Kant entwickelt seine Gedanken über die Zeit erstmalig in seiner Dissertation von 1770. Obwohl die Grundgedanken der Dissertation in der „Kritik der reinen Vernunft“ übernommen wurden,i fehlen bei der Dissertation einige Punkte. So gibt es keine klare und eindeutige Unterscheidung der „sensualitas“ und „intelligentia“ als der beiden Grundvermögen menschlichen Erkennens und „die Bestimmung der reinen Anschauungen, als die Raum und Zeit in dieser Schrift erstmals vorgestellt werden, hat noch nicht die Klarheit und Durchsichtigkeit der späteren Kritik.“ii Kant macht in der Dissertation die fundamentale Unterscheidungiii zwischen sinnlichen und intellektuellen Vermögen der Menschen, worin eine wesentliche Aufgabe einer kritischen Metaphysik liegt. Diese Gedanken der Dissertation schaffen methodische Grundlagen für das Konzept von einer wissenschaftlichen, d.h. nicht mehr auf dem klassischen Dogmatismus beruhenden Metaphysik.iv Danach ist die Wissenschaftlichkeit der Metaphysik an die strenge Beachtung jenes fundamentalen Unterschiedes zwischen den Prinzipien der sinnlichen auf der einen Seite und den Prinzipien der intellektuellen Erkenntnis auf der anderen Seite gebunden.
Kant gliedert in seiner Dissertation die Analyse der Zeit in sieben Abschnitte. Er beginnt mit der Feststellung, dass die Vorstellung der Zeit nicht aus den Sinnen stammt, sondern eine Voraussetzung für die Sinnlichkeit ist.v Man bekommt die Zeitvorstellung nicht durch die Sinne der Wahrnehmung, sondern man hat die Zeitvorstellung schon vorgängig. Nicht das Denken von Zugleich und Nacheinander einer Geschehensfolge erzeugt die Vorstellung der Zeit, sondern man hat je schon eine Zeitvorstellung, durch die erst Zugleich und Nacheinander unterschieden werden können. Deswegen ist die Zeit als die Reihe der nacheinander existierenden wirklichen Gegenstände nicht zu definieren. „Die Zeit und ihr Begriff sind nicht durchs Sensible erzeugt, sondern nur von ihm ‚herausgefordert’ und auf es bezogen.“vi
Im zweiten Abschnitt führt Kant die These ein, dass die Vorstellung der Zeit nur eine Einzelvorstellung sein kann. Die Zeit ist nicht aus dem allgemeinen Verstandesbegriff abzuleiten. Jeder Teil der Zeit lag vorgängig in der spezifischen Weise in ihr, dass er erst Teil wurde, indem er aus ihr ausgegrenzt wurde. Kant erläutert es mit einem Beispiel: „Wenn man sich zwei Jahre denkt, kann man sie sich nur in bestimmter Lange zueinander vorstellen, und wenn sie nicht unmittelbar einander folgen, nur als durch irgendeine Zwischenzeit miteinander verbunden. Welche aber von verschiedenen Zeiten früher sei und welche später, das kann auf keine Weise durch irgendwelche dem Verstand begrifflichen Merkmale definiert werden, wenn man nicht in einen fehlerhaften Zirkel fallen will, und der Geist unterscheidet das nur durch die einzelne Anschauung“.vii
Die Einzigartigkeit der Zeit ist die Voraussetzung jeder Festsetzung einer bestimmten Zeitstrecke in der einen Zeit. Daraus folgt als der Zeit eigentümliches Moment ihre Unermeßlichkeit (immasus), da Messung die Eins, d.h. die Einheit des Teils, voraussetzt. Im Hinblick auf einen früher-später Bezug kann die Beiordnung der Teilzeiten auf keine Weise durch irgendwelche dem Verstand begreiflichen Merkmale definiert werden, sondern nur durch die einzelne Anschauung des Geistes. Alles Wirkliche ist in der Zeit gesetzt und nicht, wie beim allgemeinen Verstandesbegriff, unter ihrem Begriff.viii
Im Abschnitt 3 fasst Kant die Ergebnisse des ersten und zweiten Abschnitts zusammen. Die Zeit ist kein reiner Verstandesbegriff, sondern sie ist eine endliche sinnliche Anschauung. Die Vorstellung der Zeit ist daher Anschauung. Da die Zeit vor aller Empfindung vorgestellt wird und sie die Bedingung aller Empfindungsvorstellungen ist, zeigt sie sich als reine Anschauung.ix
Kant untersucht im vierten Abschnitt die „Großheit“ (quantum) und die „bestimmte Größe“ (quantitas) der Zeit sowie ihre interne Ausdifferenzierung (Teil, Augenblick, Grenze). Die Zeit ist „ein stetiges Quantum“ und das Prinzip „aller Stetigkeitsgesetze in den Veränderungen des Weltalls“.x Obwohl ein Quantum stetig ist, besteht es nicht aus einfachen Teilen, weil mit der Zeit nur Verhältnisse, nicht Gegenstände gedacht werden. Es liegt in der Zeit als einem Quantum eine Zusammensetzung vor, „die überhaupt nichts übrig lässt, wenn man sich ihre Aufhebung vorstellt“.xi Die Zeit ist als Quantum eine Größe; aber als Zusammensetzung wird ihr auch eine „bestimmte Größe“ (Quantitas) zugeschrieben. Wenn wir an einem Zusammengesetzten alle Zusammensetzung aufheben würden, bliebe gar nichts übrig. Deswegen ist jeder Bestandteil der Zeit eine Zeit. Aber das Einfache in der Zeit, nämlich der Augenblick ist nicht Bestandteil der Zeit, sondern er ist eine Grenze. Zwischen Grenzen liegt auch eine Zeit.xii Denn zwischen den gegebenen zwei Augenblicken gibt es nur eine Zeit, in der das Wirkliche einander folgt. Also außer einem gegebenen Augenblick ist notwendig, dass eine Zeit gegeben wird, in deren Verlauf der andere Augenblick sich einstellt.xiii
Kant resümiert im fünften Abschnitt die gewonnene positive Axiomatik der Zeit mittels eines Bezugs auf die tradierten Positionen von Newton und Leibniz. Es geht hier um die Idealität der Zeit. Kant ist von Anfang bis Ende seiner Zeitphilosophie gegen die Auffassung, dass die Zeit etwas Objektives oder Reales ist.xiv Sie ist subjektiv und ideal. Die Zeit ist weder eine Substanz (wie bei Newton) noch eine Relation (wie bei Leibniz) zu verstehen. Sie ist eine subjektive und durch die Natur des Geistes notwendige Bedingung, um die Dinge nach einem bestimmten Gesetz zusammenzuordnen. Sie ist eine reine Anschauung.xv Leibniz wolle die Zeit durch das an der Bewegung Wahrgenommene oder aus einer Reihe innerer Veränderungen Entnommene entwickeln, und das sei ein Zirkel. Leibniz hatte die apriorische Stetigkeit (die Zeit) uneinsehbar gemacht und vernachlässigte völlig das wichtigste ‚Folgestück’ der Zeit, nämlich das Zugleichsein. Kant fügt zur Begründung der Idealität der Zeit ein weiteres Argument hinzu: Substanzen und Akzidenzen werden dem Zugleichsein oder der Aufeinanderfolge gemäß durch den Begriff der Zeit einander beigeordnet; also ist deren Begriff ‚älter’ als der von Substanz bzw. Akzidenz.
In diesem fünften Abschnitt stellt Kant auch ganz deutlich fest, dass die Zeitvorstellung aus dem Inneren des Geistes stammt. Da wir die Größe der Zeit an der Bewegung einer Gedankenreihe erkennen können, beruht die Vorstellung der Zeit auf einem inneren Gesetz des Geistes. Die Zeit ist keine angeborene Anschauung, mit deren Hilfe man die Empfindungen des Geistes einordnet. Und so ist es nach Kant unmöglich, den Begriff der Zeit vermittels der Vernunft abzuleiten und zu erklären. Die Möglichkeiten der Vernunft setzen die Zeit als Anschauungsform voraus und können dieselbe nicht erklären: So das logische Prinzip des Widerspruchs, dass nur durch das Zugleichsein zu verstehen ist, weil A und nicht- A sich widersprechen, wenn sie zugleich gedacht werden. Sie können aber wohl nacheinander (zu verschiedenen Zeiten) demselben zukommen. „Die Möglichkeit der Veränderungen ist deswegen nur in der Zeit denkbar, und es ist also nicht die Zeit auf Grund der Veränderungen denkbar, sondern umgekehrt“.xvi
Kant fragt im sechsten Abschnitt, in welchem Vermögen die Zeit produktiv begründet sein könnte. Die Zeit ist nicht nur der Gegenstand der Einbildungskraft, sondern sie ist auch eine Bedingung des anschaulichen Vorstellens. Der Begriff der Zeit enthält die allgemeine Form der Erscheinungen, weil die Veränderungen, Ereignisse und Bewegungen in der Welt nur durch die Zeit zu denken sind. Denn sie können „nur unter diesen Bedingungen Gegenstände der Sinne sein und koordiniert werden“.xvii Die Subjektivität der Zeit ist die Bedingung der Wahrheit und Objektivität in der Sinnenwelt. Der subjektive Ursprung der Zeit verzerrt nicht die Phänomenalität, sondern bedeutet ihre axiomatische Geltung in Bezug auf diese Welt, ohne die deren Stellenordnung, die Bedingung jeder exakt zu erfassenden Gegenständlichkeit undenkbar wäre. Hier wird die Zeit im Unterschied zu Abschnitt 2 „unendlich“ genannt. Jedes sinnliche Partikel verweist so durch die Zeit, in der es wahrgenommen wurde, auf eine Unendlichkeit.
Zeit und Raum sind in der Dissertation ebenso wie bei Newton reine Gegebenheiten, d.h. ihre Strukturmomente sind nicht aus der Empirie entnommen, sondern bestimmen diese. Kant fügt dieser Reinheit die Sinnlichkeit hinzu, d.h. er begrenzt den Anspruch, den Newton glaubte, „absolut“ setzen zu dürfen, auf ein endliches Subjekt der Erkenntnis. Das „Auseinander“ und „Nacheinander“ ist als sinnliche Vorstellung zu verstehen, weil diese Bestimmungen durch keine noch so weit fortgeschrittene Analyse in begriffliche Bestimmungen überführt werden können.
Die Auseinandersetzung mit den Strukturargumenten der Anschauungsformen unterblieb in der Dissertation. Es wurde lediglich auf die Kritik an der Subjektivität von Raum und Zeit hingewiesen. Auch wurde auf die Parallelführung der Argumente zu Raum und Zeit nur aufmerksam gemacht, aber keine direkt darauf bezogene Interpretation gegeben. Diese offenen Probleme werden in der transzendentalen Ästhetik abgehandelt.
i E. Cassirer bestätigt diese Übernahme mit folgenden Sätzen: „Die transzendentale Ästhetik übernimmt in den einzelnen Beweisen für die apriorische Bedeutung des Raumes und der Zeit die Hauptsätze der Dissertation ohne jede wesentliche Einschränkung und Umgestaltung.“ Aus: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. II, Berlin 1922, S. 684.
ii Manzke, K. H.: Ewigkeit und Zeitlichkeit. Aspekte für eine theologische Deutung der Zeit. Göttingen 1992, S.6. K. H. Manzke sieht weitere Unterschiede zwischen Kants Dissertation und der KdrV, so z. B. dass der Anschauungscharakter von Raum und Zeit in der KdrV gegenüber der Dissertation nicht wesentlich verändert wird. Trotzdem „lässt sich allenfalls von einer Verschiebung der Argumentation gegenüber der Dissertation sprechen. Aber die in der Dissertation noch offen diskutierte Möglichkeit der Bestimmung der Zeit als ‚intellektueller Begriff‘ bzw. als Idee wird von Kant in der Kritik auch der Möglichkeit nach nicht mehr aufgenommen.“ Ebd., S. 102.
iii Vgl. Kant: De Mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, hrsg. von K. Reich. Hamburg 1958, S.6.
iv Ebd., S.76-77.
v Ebd., S. 39.
vi Söffler, D.: Auf dem Weg zu Kants Theorie der Zeit. Untersuchung zur Genese des Zeitbegriffs in der Philosophie I. Kants, Frankfurt am Main 1994, S. 82.
vii De Mundi.., S. 39.
viii Ebd.
ix Ebd.
x De Mundi.., S. 39.
xi Ebd., S. 42.
xii Ebd., S. 41.
xiii Es ist auffällig, dass in den Paragraphen von De Mundi der Begriff der Zeit durchgängig als ‚conceptus’ bzw. als ‚notio’ (vgl. §13) bezeichnet wird. In den ersten drei Unterabschnitten des §14 wird sie als „idea Temporis“ herausgearbeitet. Nach §14 wird sie wieder als notio oder conceptus angesprochen. Die idea wird als Vorstellung und notio oder conceptus als Begriff ins Deutsche übersetzt. Danach könnte man sagen, dass Kant die Zeit sowohl als Vorstellung wie auch als Begriff betrachtet. Die Vorstellung der Zeit wird also meistens als ‚Idea temporis’ bezeichnet. Man hat zu beachten, dass „der Titel ‚Vorstellung‘ einen Grundbegriff der kantschen Philosophie kennzeichnet, insofern sowohl ‚Begriffe’ als auch ‚Anschauungen‘ (intuitus) bei Kant Weisen des Vorstellens, der repreasentatio, sind.“ Vgl. Söffler, D.: Auf dem Weg zu Kants Theorie der Zeit, S. 84. Kant erklärt dies in seiner Logik: „Aller Erkenntnisse, das heißt: alle mit Bewusstsein auf ein Objekt bezogene Vorstellungen sind entweder Anschauungen oder Begriffe. Die Anschauung ist einzelne Vorstellung, der Begriff (ist) eine allgemeine oder reflektierte Vorstellung.“ Aus: Logik, Frankfurt am Main 1968, S. 139.
H. Scholz gibt Anweisungen, wie die Begrifflichkeit der Zeit verstanden werden soll: „Wenn Kant in der Dissertation von 1770 den Raum und die Zeit als conceptus singulares bezeichnet, so ist das entweder ein unverständlicher oder ein sehr verkürzter Ausdruck für folgende wohl bestimmte Aussage: Die Begriffe, die wir uns nachträglich von Raum und von der Zeit zu bilden vermögen, sind Begriffe von etwas schlechthin Einmaligem, folglich von Etwas ursprünglich Nichtbegrifflichem.“ Aus: Das Vermächtnis der Kantischen Lehre vom Raum und von der Zeit, in: Kant-Studien, Bd.29 (1924), hrsg. v. P. Menzer, S. 21-70, hier S. 31f.
xiv E. Cassirer betont die Schwierigkeiten, die auftreten, wenn wir für Raum und Zeit ein dingliches Dasein annehmen: „Wenn Raum und Zeit ein gesondertes dingliches Dasein besitzen, das dem Sein der Dinge voraufgeht, so ist die Frage nicht abzuweisen, auf welche Weise diese leeren Schemen mit realem Gehalt erfüllt wurden, auf welche Art die Objekte nachträglich zu ihnen hinzugebracht und in ihnen geordnet worden sind.“ Aus: Das Erkenntnisproblem, S. 620. H. Scholz macht mit Recht einen wichtigen Unterschied zwischen dem objektiv-wirklich oder Unwirklichsein der Zeit und der objektive Gültigkeit des Raumes und der Zeit : So „gewiss nun Raum und Zeit nur entweder objektiv wirklich oder objektiv unwirklich, aber nicht objektiv gültig oder ungültig sein können, so gewiss können Urteile über räumliche und zeitliche Verhältnisse nur entweder objektiv gültig oder objektiv ungültig, aber nicht objektiv wirklich oder unwirklich sein. Der Begriff der empirischen Realität fällt also in diesem Zusammenhange durchaus mit dem der empirischen Dignität zusammen; und Kants Meinung erhellt sich mit einem Schlage, wenn wir statt von der empirischen Realität des Raumes und der Zeit vielmehr von der empirischen Dignität der empirischen Sätze über räumliche und zeitliche Verhältnisse sprechen.“ Aus: Das Vermächtnis der Kantischen Lehre vom Raum und von der Zeit, S. 44-45.
xv De Mundi., S. 43.
xvi Ebd., S. 47.
xvii De Mundi., S. 47.