Hans Peter Balmer, Philosophische Ästhetik, Eine Einladung, Narr Francke Verlag, Tübingen 2009, 165 Seiten, kartoniert, ISBN: 978-3-7720-8315-0, Preis 19,90 Euro
von Stefan Groß
Wie bereits in seinem Montaigne-Buch, wo sich Hans Peter Balmer dezidiert mit dem Thema des Gesunden Menschenverstandes auseinandersetzte, steht auch im neuesten Werk Philosophische Ästhetik. Eine Einladung wiederum eine Philosophie des Gesunden Menschenverstandes, diesmal aber eine Phänomenologie des sinnlichen Erlebens und einer damit einhergehenden Ästhetik im Mittelpunkt.
Gegen jedwede starre Rationalität, die das Leben in das Zwangskorsett reiner Vernünftigkeit pressen will, wird eine Ästhetik als Gegenpol ins Spiel gebracht, die allen metaphysisch-ästhetischen Deduktionen den Kampf ansagt. Anstelle des Logozentrismus, der die abendländische Philosophie- und Geistesgeschichte von Platon über Leibniz bis hin in den deutschen Idealismus prägte, plädiert Balmer für ein sensualistisches Wirkungsparadigma, das sich aus den Quellen des Erlebens speist. Ästhetik wird für den Autor so, ganz klassisch, zur Aisthesis, zur Quelle sinnlichen Daseins, das seine Weltinterpretationsweisen gerade aus der Vielheit der sinnlichen Bezüge ableitet. Das wirkungsästhetische Paradigma in der Nachfolge von Baumgarten, Sulzer, Winckelmann u.a. wird dabei gegen eine Gehalts- und Regelästhetik ausgespielt, die das sinnliche Erleben auf bloße Rationalität verkürzt und dann zu einem unteren Empfindungsvermögen abwertet.
Gerade jedoch im emotional geprägten Umgang mit der Wirklichkeit zeigt sich die unermeßliche Reichhaltigkeit des Lebens, die Vielschichtigkeit des sinnlichen Erlebens, die erst einen adäquaten Zugang zum je individuellen Sein ermöglicht und zu dessen existentieller Lebensqualität maßgeblich beisteuert und beitragen kann.
Der sich auf sich selbst reduzierende Rationalismus, so wird bereits auf den ersten Seiten deutlich, pervertiert sich gründlich, denn: Das rein gehaltsästhetische Paradigma spekuliert an der Erfahrung vorbei, hebt die sinnlich-ästhetische Wahrnehmung in die Reflexion auf und vernicht sie dort, anstelle in das freie Spiel der ästhetischen Einbildungskraft einzutreten, um von dieser dann die Virtuosität abzulauschen. Ein Rekurs auf eine normative Philosophie des Schönen à la Platon, die sich auf eine rein idealistische Ästhetik reduziert, bleibt im postmodernistischen Zeitalter unmöglich, denn „[…] die positivistische Reduktion verfehlt den ästhetischen Bereich mit seiner Interpretationsbedürftigkeit und seinem universalen Verweisungs- und Symbolcharakter“ (S. 11). Und: „Es kommt darauf an, die Eigenständigkeit des Ästhetischen zu achten und von dessen Lebendigkeit und unabsehbarer Unterschiedenheit her an Metaphysik und Ontologie Veränderungen anzubringen […]. Ästhetisches Philosophien […] tendiert auf ‚Umwertung’, auf Post-Moderne“ (S. 11).
Mit dem Ästheten Baumgarten, der das Paradigma einer Wirkungsästhetik aufgerichtet hatte, die mit dem deduktiven Geschäft metaphysischer Ableitungen brach und sich gegen den Platonismus des Schönen wendete, unterstreicht Balmer die Polyperspektivität der ästhetischen Wahrnehmung. An die Stelle der ästhetischen Reflexion, die sich die sinnliche Wahrnehmung deutend vereinnahmt und damit negativ aneignet, tritt das ästhetisch reflektierende Subjekt, das sich als leib-geistige Einheit in Freiheit seiner Welt bemächtigt und den festangestammten Platz der Rationalität okkupiert, um ihren Vormachtsanspruch deutlich zu relativieren. Statt ästhetische Reduktion - also Weltaneignung durch ästhetische Wahrnehmung. Die Welt entschlüsselt sich damit nicht mehr mittels vorgegebener, objektiv-generalisierter ästhetischer Kategorien, einem Interpretationsschema des A priori, sondern ganz deleuzianisch gesehen, in der Eroberung der jeweiligen rhizomatischen Seins- und Sinnbezüge, was aber nicht ausschließen soll, daß sich die neue Emotionalität von der Rationalität ganz abwendet, denn wo dies geschieht, für Balmer in der Ästhetik des Faschismus, ist ein blinder Irrationalismus nicht weit.
Worum es Balmer also letztendlich geht, ist eine Synthesis zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, was er auch dann hervorhebt, wenn er schreibt: „Indem das Individuum im Logischen wie auch im sensitiv-emotionalen Bereich getreulich repräsentiert, was ist, stimmen Mikro- und Makrokosmos zusammen“ (S. 24).
Balmer ist damit gar nicht so weit von Goethes Kunstauffassung entfernt, die von den Sinnen ausgeht, von den unterschiedlichsten Phänomen in ihrem immanenten Verweisungs- und Symbolcharakter, um von dort aus nach dem Allgemeinen, der Ur-Idee, zu fragen, wobei dann das Besondere im Allgemeinen enthalten ist und das Allgemeine als Besonders aufscheint.[1]
Die Ästhetik ist für Balmer „kein Reservat elitärer Subjektivität, keine Sonderdomäne exaltierten Kunstschaffens, sie ist nicht Schein und auch nichts Unverbindliches. Ganz im Gegenteil, als Zentraldimension bereits des Alltagslebens ist das Ästhetische grundlegend für die Erfahrung und Gestaltung von Wirklichkeit überhaupt“ (S. 26).
Kurzum: Balmers Philosophische Ästhetik ist tatsächlich eine Einladung, sich mit der Geschichte der Philosophie des Schönen in den letzten zweihundert Jahren vertraut zu machen. Sprachlich eindrucksvoll und verständlich geschrieben, gibt das kleine Werk einen hervorragenden Einblick in ein Stück Philosophiegeschichte, das darüber hinaus – in Einzelanalysen –, die zentralen und entscheidenden ästhetischen Philosopheme von Baumgarten, Kant, Schiller, der Romantik, dem Deutschen Idealismus, Kierkegaard, Nietzsche und Dewey abhandelt. Für alle ästhetisch Interessierten ist Balmers Buch daher mit gutem Gewissen zu empfehlen.
[1] Der Gedanke einer synthetischen Ästhetik ist bereits grundlegend im Werk des Thüringer Philosophen Karl Christian Friedrich Krause angelegt, der in seiner Philosophie des Schönen Wirkungs- und Gehaltsästhetik miteinander harmonisch verbindet.