Christopher Clark: Preußen – Aufstieg und Niedergang 1600 – 1947. München (Deutsche Verlags-Anstalt): 2007. 896 Seiten. EURO (D) 39.90. ISBN: 3421053928. [Gebundene Ausgabe].
Christopher Clark: Preußen – Aufstieg und Niedergang 1600 – 1947 München (Pantheon): 2008. 896 Seiten. EURO (D) 18,95 ISBN: 3570550605. [Taschenbuch].
Christopher Clarks Iron Kingdom. The Rise and Fall of Prussia ist 2006 bei Penguin Group herausgebracht worden. Wenig später erschien die deutsche Version: Preußen – Aufstieg und Niedergang 1600 – 1947. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Deutsche Leser, sofern sie historisch bewandert sind, werden nicht allzu viel Neues finden. Seit etwa dreißig Jahren liegen mehrere kompetente Darstellungen zur preußischen Geschichte vor. (Die Berliner Preußen-Ausstellung des Jahres 1981 im Martin-Gropius-Bau kann als ein Startsignal des neu erwachten Interesses gelten.) Wer seinen Sebastian Haffner, Wolf Jobst Siedler oder Joachim Fest gelesen hat, seinen Johannes Kunisch oder Wolfram Pyta, wird über Preußen im Bilde sein, dies auch mit Blick auf Wertungsfragen und übergreifende Zusammenhänge: Nur Hinterwäldler machen noch immer den Fehler, Preußen für Deutschlands Weg zum Faschismus in Haftung zu nehmen. Längst ist es gängiges Bildungswissen, dass der ‚Tag von Potsdam’ – das Bekenntnis der ‚preußischen’ Eliten zu Hitler am 21. 3. 1933 – nicht ohne den 20. Juli 1944 zu begreifen ist (und vice versa); dass die Führungsschicht des ‚Dritten Reiches’ zum größeren Teil dem süd- und westdeutschen und österreichischen katholischen Milieu entstammte: München und Wien waren die Brutstätten völkischen Denkens, das rote Berlin war den Hitler und Goebbels verhasst; dass Preußen im 18. und frühen 19. – und in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, unter sozialdemokratischer Führung – als fortschrittlichste politische Kraft in Deutschland gelten kann: Berlin hatte niemals ein Ghetto, statt dessen Moses Mendelssohn und Rahel Varnhagen. Auch der Topos vom preußischen Militarismus ist zu relativieren: Die preußische Generalität war immer loyal zur zivilen Regierung, und die Rede vom ‚Bürger in Uniform’ verdankt sich letztendlich der preußischen Reformära des frühen 19. Jahrhunderts.
All diese Tatsachen sind seit langem bekannt. Das heißt aber nicht, Christopher Clark hätte dem marktgängigen Preußen-Bild nichts mehr hinzuzufügen. Seine Einlassungen über Bündniskonstellationen der friderizianischen oder der Bismarck-Zeit dürften an konziser Präzision ihresgleichen nicht finden – zumindest im populärwissenschaftlichen Rahmen. Bemerkenswert seine Darlegungen zur Vergangenheitspolitik der beiden Deutschland nach 1945, zumal zur Aneignung des ‚preußischen Erbes’ durch die DDR: Seit dem Frieden von Hubertusburg 1763 ist Russland mehrfach als Preußens Schutzmacht aufgetreten, und selbst die Sowjetunion pflegte ein – gemessen an Sichtweisen der Westmächte – erstaunlich differenziertes Preußen-Bild. Die späte ‚Liebe’ der SED zu Preußen und seinen Militärreformern, die gleichsam als Schutzpatrone der Nationalen Volksarmee herhalten mussten, überrascht immer wieder aufs Neue: Preußen als Sündenbock deutscher Geschichte ist eine Erfindung Roosevelts, Churchills und jener Süd- und Westdeutschen, die sich nach 1945 bequem zu exkulpieren versuchten. Man denke an Konrad Adenauers heftiges anti-preußisches Ressentiment...
Christopher Clark bringt wenige neue Einsichten aufs Tapet: Woher rührt der beachtliche Erfolg dieses Buches? Er dürfte Clarks Fähigkeiten als Erzähler und Stilist geschuldet sein: einer überaus ökonomischen, dichten Darstellungsweise, dem souveränen Blick für Zusammenhänge über Zeiten und Grenzen hinweg und dem sorgfältig abwägendem Urteil. Auch frappiert die Unbefangenheit des Autors: Der Brite (recte: Australier) Clark verfügt über jene gesunde Distanz, die es gestattet, vergangenheitspolitisch prekäre Erscheinungen sine ira et studio – und ohne Konzessionen ans vermeintlich politisch Korrekte –, gleichsam mit unbefangenem (nicht: naivem) Blick zu betrachten, mit anderen Worten: Preußen aus politischen Debatten des Tages zu lösen und elegant zu historisieren. So gereicht es Clark zur Ehre, dass er nicht Schlachtenlärm und weltpolitische Durchblicke, nicht Urteil und Wertung ans Ende seiner Erzählung stellt, sondern Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1862ff), einen nüchtern-liebenvollen Blick aufs preußische Kernland und Nachlass zu Lebzeiten Preußens. Wer hätte vor dreißig Jahren gedacht, dass es möglich sein würde, (unter anderem) ‚anekdotisch’ von preußischer Geschichte zu schreiben – wenngleich ohne Verniedlichung und gespielte Harmlosigkeit?
Ein Wort zur deutschen Ausgabe: Das Übersetzerteam – Richard Barth, Norbert Juraschitz und Thomas Pfeiffer – hat vorzügliche Arbeit geleistet. Das sprachliche Niveau liegt weit über dem Durchschnitt von Übersetzungen im Bereich Sachbuch. Dies gilt mit Blick auf terminologische wie idiomatische Richtigkeit. Auch sind die Sätze ‚gut gebaut’, d. h., sie entfalten sich, ohne zu holpern und stolpern. Dass dieses eine Übersetzung ist, wird über weite Strecken kaum spürbar, und wenn es etwas zu bemäkeln gibt, ist es einzig die zuweilen dubiose Platzierung der Kommata. (Dergleichen kann das Lesevergnügen kaum schmälern.) Es ist bedauerlich – wenngleich verständlich –, dass die Leistung der drei Übersetzer von Rezensenten selten gewürdigt wurde: Christopher Clarks unstrittige schriftstellerische Bravour hat ihr Werk überstrahlt.
Preußen, während zweier Jahrhunderte eine prägende Kraft europäischer Geschichte, hat 1947 – oder früher: 1871 – aufgehört zu existieren. Es ist Erinnerung, nichts sonst, darin der Habsburger Monarchie gleich. Recht besehen stellt sich Preußen noch chimärenhafter dar als Österreich, welches gewissermaßen fortexistiert, wenngleich in zwergenhafter Schrumpfung und unter republikanischen Bedingungen. Preußen ist gleichsam ein mitteleuropäisches Atlantis – mit dem wesentlichen Unterschied, dass es ‚wirklich’ war, bevor es Mythos wurde:
„Im öffentlichen Bewusstsein ist Preußen mit der Erinnerung an militärische Erfolge verbunden: Roßbach, Leuthen, Leipzig, Waterloo, Königgrätz, Sedan. Doch im Laufe seiner Geschichte stand Preußen mehrmals am Rande seiner politischen Auslöschung: während des Dreißigjährigen Krieges, während des Siebenjährigen Krieges, und noch einmal 1806, als Napoleon die preußische Armee vernichtete [...]. Die Kehrseite des unerwarteten preußischen Aufstiegs war ein bleibendes Gefühl der Verwundbarkeit, das die politische Kultur Preußens zutiefst geprägt hat. Dieses Buch beschreibt, wie Preußen entstanden ist und wie es unterging. Nur wenn man diese beiden versteht, wird nachvollziehbar, warum ein Staat, der einst in den Köpfen so vieler Menschen einen so bedeutenden Platz eingenommen hat, ebenso restlos wie abrupt von der politischen Bühne verschwinden konnte, ohne dass ihm jemand eine Träne nachgeweint hätte.“ (16)