Fritz Muliar: Denk ich an Österreich. Eine Bilanz. Aufgezeichnet von Helmuth A. Niederle. Residenz Verlag (Salzburg): 2009. 268 Seiten. EURO (D) 21,90. ISBN: 978-3-7017-3142-8.
(Krakow/ Polen)
„Schwejk ist tot“, titelt FOCUS, als Fritz Muliar am 4. Mai 2009 bei Wien verstirbt, Stunden, nachdem er im ‚Theater in der Josefstadt’ aufgetreten ist, dem Domizil gehobenen Volkstheaters zwischen Raimund und Horvath, wie hunderte Male zuvor.
Muliar war Österreich: Die Großeltern reaktionär katholisch, der leibliche Vater Offizier im kaiserlich-königlichen Heer, späterhin Nazi. Die Mutter, Verkörperung des Roten Wien, ist Sozialdemokratin, der Stiefvater, Mischa Muliar, russischer Jude: Fritz Muliars familiäre Herkunft führt Glanz und Elend Österreichs zwischen Kaisertum und Anschluss zusammen. Er selbst war einer der letzten, die übers Rote Wien der 20er Jahre und dessen von der Donaumonarchie überkommenes Völker- und Sprachengemisch aus eigener Erfahrung Auskunft zu geben vermochten. (Ein anderer, Alfred Hrdlicka, der vieles mit Muliar gemein hat, ist wenige Monate nach diesem, im Dezember 2009, verstorben.) Unter den Schauspielern unserer Tage hat Muliar als letzter den böhmischen und jiddischen Tonfall, Alltag im Wien seiner Kindheit, aus persönlicher Anschauung wiederzugeben vermocht.
Helmuth A. Niederle, Literat und Literaturwissenschaftler, hat Muliar Lebensrückblick posthum in die geeignete Form gebracht: stilistisch unprätentiös, den Charakter der Mündlichkeit wahrend, ohne hochgemute künstlerische Ambition. Die Sprache drängt sich nicht vor den Inhalt, und dies ist sehr zu begrüßen, denn Muliar hat viel zu berichten – und immer erneut stellt er mutige, souverän unterscheidende Urteilskraft unter Beweis. So weiß er, kein Anti-Klerikaler, Kirchenmänner und amtierende Päpste lässig-hintersinnig ins Visier zu nehmen:
„Wie oben schon erwähnt, bin ich mit einigen Kirchenmännern in führenden Positionen bekannt, mit manchen sogar befreundet. Ich schätze sie sehr. […] Es war mir immer auch eine Ehre, dem Kardinal König schreiben zu dürfen und von ihm Antworten zu bekommen. […] Als er starb, kam Kardinal Ratzinger nach Wien und leitete einen Gottesdienst, an dem ich teilnahm. Mir fiel auf, der Ratzinger hat immer so schief von unten hinaufgeschaut, so wie er das jetzt auch als Papst macht. Ich habe manchmal das Gefühl, dass hinter seinen salbungsvollen Worten ganz andere Ziele stehen.“ (90)
Unorthodox Muliars Darstellung zweier zumindest umstrittener, meist aber verdammter Gestalten des österreichischen politischen Lebens: Kurt Waldheims und Fritz Peters. (Letzterer, vormals SS, war als Parteichef der FPÖ um Annäherung an die politische Mitte bemüht, und ein politischer Gegner Jörg Haiders.) Weil sein Lebenslauf untadelig ist – als Rekrut im Zweiten Weltkriegs wurde Muliar wegen „Wehrkraftzersetzung“ mit dem Tode bedroht –, kann er sich deutlicher als andere exponieren, wenn es gilt, die Vita ‚Ehemaliger’ differenziert zu betrachten.
Jörg Haider firmiert unter verschiedenen, sehr wohl durchschaubaren Tarnnamen, u. a. als „HJ“ (sic). Man darf sicher sein, dass solcher Doppelsinn in Muliars Absicht liegt. Wo in Österreich sind heute so deutliche, also kritische Worte über den „Karawankenmessias“ zu hören:
„Es wirkt wie eine späte Strafe für seine Beschimpfung des Lyrikers […] H. C. Artmann, der vom Bärentaler [Haider] als „Säufer“ bezeichnet wurde, als einer, der von der öffentlichen Hand bezahlt nicht nur lebe, sondern auch noch trinke, dass sich Haider vollfett mit überhöhter Geschwindigkeit seines Autos selbst ausgelöscht hat. Und nun verlangen seine Handlanger, dass mit Ehrfurcht von dem [Orts-]Taferlzeiger gesprochen werde und klagen, dass seinen Gegnern die nötige Pietät fehle. Es wird nicht lange dauern und zum Andenken an den Führer [sic] aus dem Kärntnerland werden Plätze, Brücken, Parks und Straßen benannt. Vielleicht kommt noch eine Kapelle oder gar ein An-Führer-Museum.“ (120f)
Die FPÖ (respektive BZÖ) ist schnell bei der Hand, wenn es gilt, kritische Geister wegen vorgeblich ehrabschneiderischer Behauptungen über Parteiprominenz zum Schweigen zu bringen. Fritz Muliar, zumal posthum, Dreck hinterherzuwerfen, wird aber nicht einmal die ‚F’ wagen.
Immer aufs neue wird deutlich: Dieser Mann – Fritz Muliar, nicht Haider – hat Grundsätze. Sie sind moralisch verankert und werden auf politische Konsequenzen hin befragt. Erfreulich, dass Muliar, ein treuer Sozialdemokrat, in unseren Tagen, da allerorten Wechselwählertum grassiert, darauf besteht, politische Präferenzen beruhten auf ideologischen. Dies hindert ihn nicht, die Bedeutung einzelner Politikerpersönlichkeiten, ihres Charismas, ausdrücklich anzuerkennen. Willy Brandt und Helmut Schmidt werden genannt, und selbstverständlich Bruno Kreisky.
Zu Muliars Eigentümlichkeiten zählt rabiater Österreich-Patriotismus – nicht ohne rabiate Österreich-Kritik –, der sich mit beinahe hysterischem Nachdruck von allem, was deutsch scheint, abzugrenzen versucht und zuverlässig die sprachliche, kulturelle und politische Eigenständigkeit Österreichs hervorzukehren bemüht ist. Dergleichen lässt sich allein vor dem Hintergrund des Jahres 1938 verstehen. Auch die Konflikte unter Claus Peymanns Burgtheater-Intendanz mögen ihren Teil beigetragen haben: Fritz Muliar, Ensemblesprecher, wollte Peymanns Berufung verhindern. Aus seiner bis heute bestehenden Abneigung gegen den Menschen wie den Theatermann macht er durchaus keinen Hehl. (Es spricht für Muliars Wahrhaftigkeit, dass er Peymann trotz allem im Einzelfall menschlichen und künstlerischen Respekt nicht versagt.) Kurzum: Zwischen der großen Welt des Theaters und der viel größeren Weltpolitik werden unterschiedlichste Provinzen menschlichen Daseins zur Geltung gebracht. Das Politische, mehr als Theater und Film, bildet den Kern.
Das 20. Jahrhundert beginnt politisch mit den Revolutionswirren der Jahre 1917 bis 1919. Dieses ist Fritz Muliars Geburtsjahr: Er hat das ‚Jahrhundert der Extreme’ von Anfang mitgemacht und um einiges überlebt. Wenige sind wie Muliar berufen, von der Warte hohen Alters Rückschau zu halten und die Summe dieses Jahrhunderts zu ziehen:
„Ich sehe heute Dinge vor mir, die ich längst vergessen geglaubt hatte. […] Enttäuschend ist, dass ich mit vielem, was ich tagtäglich höre oder lese, nicht einverstanden bin. Was ist aus den Vorsätzen geworden, als 1945 der Zweite Weltkrieg zu Ende ging und sich die Menschen, nicht nur in Österreich, einig waren, dass jetzt eine neue Zeit mit mehr Vernunft und noch mehr Humanität anbrechen müsse? Wollten wir nicht alle eine Welt, in der sich die Menschlichkeit durchsetzt? […] Das 20. Jahrhundert war auch das Jahrhundert von Marc Chagall, Charlie Chaplin und Clara Zetkin. Sie haben dazu beigetragen, den Traum der Humanität nicht sterben zu lassen.“ (15)