Wolfgang Kienzler
Motto 1 Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Felde der spekulativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab. (Prolegomena, Vorrede)
Motto 2 Dieses Produkt der reinen Vernunft in ihrem transzendenten Gebrauch [d.h. die kosmologischen Ideen bzw. die Antinomie; W.K.] ist das merkwürdigste Phänomen derselben, welches auch unter allen am kräftigsten wirkt, die Philosophie aus ihrem dogmatischen Schlummer zu erwecken und sie zu dem schweren Geschäfte der Kritik der Vernunft selbst zu bewegen. (Prolegomena § 50)
Motto 3 Nicht die Untersuchung vom Dasein Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punkt gewesen, von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der reinen Vernunft: ‚Die Welt hat einen Anfang –: sie hat keinen Anfang etc. bis zur vierten: Es ist Freiheit im Menschen, – gegen den: es ist keine Freiheit, sondern alles ist in ihm Naturnotwendigkeit’; diese war es, welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Kritik der Vernunft selbst hintrieb, um das Schicksal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben. (An Garve, 21. 9. 1798)
Motto 4 Ich sah anfänglich diesen Lehrbegriff wie in einer Dämmerung. Ich versuchte es ganz ernstlich, Sätze zu beweisen und ihr Gegenteil, nicht um eine Zweifellehre zu errichten, sondern weil ich eine Illusion des Verstandes vermutete, zu entdecken, worin sie stäke. Das Jahr 69 gab mir großes Licht. (Reflexion 5037)
Ist es möglich, Kants eigene Berichte, insbesondere in den Prolegomena, über die Entwicklung seiner kritischen Philosophie, vom Erwachen aus dem dogmatischen Schlummer bis zur Fertigstellung der Kritik der reinen Vernunft, zu einer kohärenten und schlüssigen Skizze der Entstehung seiner Transzendentalphilosophie zusammenzufügen? In der Forschung wird dies fast durchgehend bezweifelt, hier soll es aber dennoch versucht werden.1
Das bei weitem ausführlichste Dokument in diesem Zusammenhang ist die Vorrede zu den Prolegomena. Dort berichtet Kant davon, daß „seit dem Entstehen der Metaphysik, soweit die Geschichte derselben reicht, sich keine Begebenheit zugetragen [hat], die in Ansehung des Schicksals dieser Wissenschaft hätte entscheidender werden können, als der Angriff den David Hume auf dieselbe machte“. Hume brachte zwar „kein Licht in diese Art von Erkenntnis, aber er schlug doch einen Funken“. Sein Angriff galt „einem einzigen aber wichtigen Begriffe der Metaphysik, nämlich dem der Verknüpfung der Ursache und Wirkung“. Hume „bewies unwidersprechlich, daß es der Vernunft gänzlich unmöglich sei a priori und aus Begriffen eine solche Verbindung zu denken“. Dieser Begriff entspringe tatsächlich der „Einbildungskraft“ und drücke daher nur eine „subjektive Notwendigkeit“ aus. Hume komme damit aber zu dem Ergebnis, „die Vernunft habe gar kein Vermögen, solche Verknüpfungen, auch selbst nur im allgemeinen, zu denken, weil ihre Begriffe alsdann bloße Erdichtungen sein würden“. Dies aber bedeute insgesamt: „Es gebe überall keine Metaphysik und könne auch keine geben“.2 Humes Gedankengang, bei dem „von dem Ursprunge dieses Begriffs, nicht von der Unentbehrlichkeit desselben im Gebrauche“ die Rede war, wurde, so Kant, aber nicht verstanden, und das Heranziehen des „gemeinen Menschenverstandes“ durch die schottische Common-Sense-Philosophie (Kant nennt Reid, Oswald, Beattie und Priestley) führe hier ganz in die Irre.3 An dieser Stelle folgt Kants berühmtes Bekenntnis, von Hume aus seinem eigenen dogmatischen Schlummer geweckt und in seinen Untersuchungen in der theoretischen Philosophie in eine neue Richtung gelenkt worden zu sein (s. Motto 1). Kant betont aber sofort, daß er Humes skeptische Schlußfolgerung immer abgelehnt habe:
Ich war weit entfernt, ihm in Ansehung seiner Folgerungen Gehör zu geben, die bloß daher rührten, weil er sich seine Aufgabe nicht im Ganzen vorstellte, sondern nur auf einen Teil derselben fiel, der, ohne das Ganze in Betracht zu ziehen, keine Auskunft geben kann.4
Er nennt Humes Beitrag einen „gegründeten, obzwar nicht ausgeführten Gedanken“, der jemanden dazu verhelfen könne „es bei fortgesetztem Nachdenken weiter zu bringen, als der scharfsinnige Mann kam, dem man den ersten Funken dieses Lichts zu verdanken hatte.“ Kant beschreibt sein eigenes Vorgehen so, daß er „Humes Einwand allgemein vorstellen“ wollte, und daß er bald fand, „daß Metaphysik ganz und gar daraus bestehe, daß „der Verstand a priori sich Verknüpfungen der Dinge denkt“.5 Damit gelangte er zunächst einmal zur oben schon formulierten Kritik nicht nur an einem besonderen Begriff, sondern an aller Metaphysik überhaupt – nach Kants Meinung hatte Hume eine solche allgemeine Kritik unter Verweis auf das eine Beispiel und die allgemeine Schwäche der Vernunft zwar ausgesprochen, aber nicht wirklich begründet. Um die Untersuchung systematisch weiter zu entwickeln, versucht Kant nun, eine vollständige Liste aller solcher Begriffe der Metaphysik zu erstellen: „Ich suchte mich ihrer Zahl zu versichern und da dieses mir nach Wunsch nämlich aus einem einzigen Prinzip, gelungen war, so ging ich an die Deduktion dieser Begriffe, von denen ich nunmehr versichert war daß sie nicht, wie Hume besorgt hatte von der Erfahrung abgeleitet sondern aus dem reinen Verstande entsprungen seien.“ Kant nennt diese Deduktion, die Hume „unmöglich schien“, und die „niemand außer ihm sich auch nur hatte einfallen lassen“,6 „das Schwerste, das jemals zum Behuf der Metaphysik unternommen werden konnte“. Eine besondere Schwierigkeit lag dabei darin, daß Kant für diese Deduktion sozusagen alles neu und selbst machen mußte, da Metaphysik ihm nicht „die mindeste Hilfe“ leisten konnte, da ja umgekehrt „jene Deduktion zuerst die Möglichkeit einer Metaphysik ausmachen soll“.7 Als Ergebnis gelingt es Kant „den ganzen Umfang der reinen Vernunft, in seinen Grenzen sowohl als seinem Inhalt vollständig und nach allgemeinen Prinzipien zu bestimmen“. Diese „Auflösung“ oder auch „Ausführung des Humeschen Problems in seiner möglich größten Erweiterung“ nennt Kant dann auch „Kritik der reinen Vernunft“. Soweit Kants Vorwort.
Versucht man nun Kants Bericht auf die Phasen seiner philosophischen Arbeit zu beziehen, so geht man am besten rückwärts von der Fertigstellung der Kritik der reinen Vernunft aus. Die angesprochene Deduktion findet sich darin als zentraler Textabschnitt (A 84-130); sie entstand zwischen 1772 und 1780.8 Die ihr vorangehende Ableitung der Begriffe a priori aus einem Prinzip9 läßt sich der Urteils- und Kategorientafel zuordnen, wo Kant von einer solchen Ableitung spricht (A 68-80). Für die zeitliche Einordnung des dieser Aufgabe noch vorangehenden Schrittes, nämlich eine komplette solche Liste zu erstellen, gibt Kant einige ergänzende Hinweise:
Bei einer Untersuchung der reinen (nichts Empirisches enthaltenden) Elemente der menschlichen Erkenntnis gelang es mir allererst nach langem Nachdenken, die reinen Elementarbegriffe der Sinnlichkeit (Raum und Zeit) von denen des Verstandes mit Zuverlässigkeit zu unterscheiden und abzusondern. (Prolegomena § 39)
Diese Trennung, die den grundsätzlich nichtbegrifflichen, eben anschaulichen Charakter von Raum und Zeit klarstellt (A 19-49), nimmt Kant erstmals konsequent in seiner Dissertation von 1770 vor.10 Die systematische Arbeit an der Tafel der Urteile und Kategorien kann demnach erst danach erfolgt sein. Das „lange Nachdenken“ über die Elementarbegriffe, also über Ursache und Wirkung, aber auch die anderen metaphysischen Begriffe, während der Kant zunächst noch keine zufriedenstellende Systematik erreichte, wäre demnach auf die Zeit vor 1770 anzusetzen. Als Beginn dieses Nachdenkens (über den die Vorrede schweigt) legt sich nun Kants Erwachen aus dem dogmatischen Schlummer nahe. Wann aber wäre dieses Ereignis anzusetzen? Kant selbst spricht hier nur unbestimmt von „vor vielen Jahren“.
Was bedeutet nun überhaupt die Rede vom „dogmatischen Schlummer“, und wie ist der Charakter von Humes Einfluß zu verstehen? Zunächst einmal fällt auf, daß Kant nicht von einer Lektüre oder gar einem Studium der Schriften Humes spricht, ja nicht einmal das Buch nennt, auf das er sich bezieht.11 Dies legt es nahe, daß Kant den Bezug für offensichtlich hält und auch innerhalb der (ihm bekannten) Schriften Humes keinen Unterschied macht oder machen will. Kant unterstellt, daß jeder, der Humes philosophischen Grundansatz kennt, auf denselben Gedanken hätte kommen können wie er selbst, daß also die gesamte Anlage von Humes theoretischer Philosophie, und nicht etwa nur eine spezielle Passage, von der Art ist, daß sie das „Humesche Problem“ enthält. Dies kontrastiert etwa mit Kants eher isoliertem, wenn auch thematisch verwandten Hinweis, daß bereits Locke von synthetischen Urteilen a priori gesprochen, diese aber als wenig wichtig eingeschätzt habe. Diesen spezielleren Verweis versieht Kant mit einer genauen Stellenangabe.12 Seine emphatische Bezugnahme hat daher wenig mit ausgedehnter Lektüre der Schriften Humes zu tun, wohl aber mit einer durchgreifenden Änderung in Kants Haltung zur Philosophie.
Die Rede vom „Schlummer“ wäre also so zu verstehen, daß Kant vor seinem Erwachen die Metaphysik für eine respektable Wissenschaft hielt, an der er auch selbst mitarbeitete, bevor ihm durch Hume die Möglichkeit einer solchen Wissenschaft in Zweifel gezogen wurde. Wichtig ist dabei der Umstand, daß Kant gar nicht wußte, daß er schlummerte, weil er den anfänglichen Zustand für selbstverständlich nahm und ihn daher auch gar nicht zu begründen versuchte. In einer späten Reflexion stellt Kant seine Anfänge tatsächlich ganz ähnlich dar:
Ich habe von dieser Wissenschaft [der Metaphysik; W.K.] nicht jederzeit so geurteilt. Ich habe anfänglich davon gelernet, was sich mir am meisten anpries. In einigen Stücken glaubte ich etwas Eigenes zu dem gemeinschaftlichen Schatze zutragen zu können, in andern fand ich etwas zu verbessern, doch jederzeit in der Absicht, dogmatische Einsichten dadurch zu erwerben. Denn der so dreist hingesagte Zweifel schien mir so sehr die Unwissenheit mit dem Tone der Vernunft zu sein, daß ich demselben kein Gehör gab.13 (Reflexion 5116)
An diesem Bericht ist nicht so sehr das Wort „dogmatisch“ entscheidend, vielmehr beschreibt sich Kant als jemanden, der innerhalb eines vorgegebenen Feldes Forschungsbeiträge liefern will. Er berichtet, daß er später „mit wirklichem Ernst, die Wahrheit zu finden“, nachdachte, und dann zu einer ganz anderen Haltung gelangte: „Man unterwirft, was man gelernt oder selbst gedacht hat, gänzlich der Kritik. Es dauerte lange, daß ich auf solche Weise die ganze dogmatische Theorie dialektisch fand.“ (ebd.) Hier ist der entscheidende Bruch vollzogen, denn Kant stellt damit das gesamte Theoriegebäude in Frage und kann daher auch keine weiteren eigenen Beiträge zur Metaphysik im traditionellen Sinne leisten. Seine Aufgabe liegt jetzt in der umfassenden und radikalen Neubegründung.14
Das Aufwachen aus dem dogmatischen Schlummer bedeutet also, daß Kant aufhört an Metaphysik als eine schon bestehende Wissenschaft, an der er mitarbeiten kann, zu glauben.15
Kants Briefe der 1760er Jahre geben über seine Haltung in dieser Zeit auf sehr direkte Weise Auskunft.16 An Herder schreibt er am 9. Mai 1768:
Was mich betrifft, da ich an nichts hänge und mit einer tiefen Gleichgültigkeit gegen meine oder anderer Meinungen das ganze Gebäude öfters umkehre und aus allerlei Gesichtspunkten betrachte, um zuletzt etwa denjenigen zu treffen, woraus ich hoffen kann, es nach der Wahrheit zu zeichnen […].
Hier spricht Kant als jemand, der keine eigene Meinung vertritt, sondern noch unterwegs ist, eine solche aufzufinden; und zwar nicht zu einer einzelnen Frage, sondern zum „ganzen Gebäude“, d.h. zur Vernunft bzw. den „Schranken der menschlichen Fähigkeiten“ insgesamt. Um 1768 ist Kant längst aufgewacht, hat aber noch keine Antwort gefunden.
Auch schon 1766, spricht Kant gegenüber Mendelssohn davon, der bestehenden Metaphysik „das dogmatische Kleid abzuziehen und die vorgegebenen Einsichten skeptisch zu behandeln, wovon der Nutzen freilich nur negativ ist, aber zum Positiven vorbereitet“ (8. April 1766). Auch hier ist Kant schon so weit, daß er nicht von Hume aufgeweckt werden muß, sondern dessen Skepsis methodisch erweitert.
Schließlich schreibt er bereits 1765 an Lambert:
Ich habe verschiedene Jahre hindurch meine philosophische Erwägungen auf alle erdenkliche Seiten gekehrt, und bin nach so mancherlei Umkippungen, bei welchen ich jederzeit die Quellen des Irrtums oder der Einsicht in der Art des Verfahrens suchte, endlich dahin gelangt, daß ich mich der Methode versichert habe, die man beobachten muß, wenn man demjenigen Blendwerk des Wissens entgehen will, was da macht, daß man alle Augenblicke glaubt zur Entscheidung gelangt zu sein, aber ebensooft seinen Weg wieder zurücknehmen muß, und woraus auch die zerstörende Uneinigkeit der vermeinten Philosophen entspringt; weil gar kein gemeines Richtmaß da ist, ihre Bemühungen einstimmig zu machen. (31. Dezember 1765)
Ende 1765 ist Kant also nach eigener Aussage schon „verschiedene Jahre“ dabei, alles in Frage zu stellen und die Ansprüche der zeitgenössischen Metaphysik, d.h. also jede Form von Dogmatismus abzulehnen. Er bringt dies mit dem Phänomen des selbstzerstörerischen Widerstreits in Verbindung, wenn auch noch nicht in der systematischen Art der Antinomien. Der erste Anstoß für Kants großes Projekt wäre demnach spätestens um 1760, eher noch früher zu datieren.
Die untere zeitliche Grenze für Kants Humerezeption ist 1756, das Erscheinungsjahr der deutschen Übersetzung von Humes Versuchen über den menschlichen Verstand. Daß Kant Humes schon früh rezipiert hat, betont etwa die zeitgenössische Biographie von Borowski, der auf die zweite Hälfte der 1750er Jahre bezogen genau zwei Autoren nennt, die Kant empfiehlt und hervorhebt:
In den Jahren, in denen ich zu seinen Schülern gehörte, waren ihm Hutcheson und Hume, jener im Fache der Moral, dieser in seinen tiefen, philosophischen Untersuchungen ausnehmend wert. Durch Hume besonders bekam seine Denkkraft einen ganz neuen Schwung. Er empfahl diese beiden Schriftsteller uns zum sorgfältigsten Studium.17
Als naheliegende Datierung für den grundlegenden Anstoß ergibt sich so ein Zeitpunkt zwischen 1755 und 1760. Kants Schriften zwischen 1755 und 1770 bestätigen eine solche Datierung insofern, als sie sämtlich relativ kurz, häufig anläßlich einer speziellen Gelegenheit entstanden sind, und keine zusammenhängende Theorie entwickeln. Im Rückblick kommentiert Kant seine Haltung so, daß er in dieser Zeit am liebsten gar nichts veröffentlicht hätte: „Ich habe so gar die kleinen Versuche, die ich davon ausstreute, um nicht ganz müßig zu scheinen, niemals wiederum angesehen, um nicht auf einerlei Stelle geheftet zu bleiben“ (Reflexion 4992) Seine Schriften dieser Zeit versteht Kant eher als Erfüllung der Pflicht und als Oberflächenphänomen, seine eigentliche Arbeit liegt darin, eine überzeugende Antwort auf Hume zu entwickeln.
Kants Arbeit in der Philosophie zwischen 1755 und 1781 liegt dabei nicht auf einem einzelnen Gebiet oder einem besonderen Problem, sondern darin, für die gesamte Philosophie überhaupt einen überzeugenden und systematischen Neuanfang zu finden. Der zentrale Gesichtspunkt ist dabei zunächst die Dialektik der Vernunft, d.h. die Behandlung der endlosen, offenbar unlösbaren Streitigkeiten innerhalb der Metaphysik. Kant betont hier neben den Fragen nach der Natur der Seele und der Frage nach Gottes Existenz insbesondere die von ihm so genannten kosmologischen „Antinomie der Vernunft“, die sich a) auf die Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt in Raum und Zeit, b) die Einfachheit oder Zusammengesetztheit der Welt, c) die Frage nach der Kausalität bzw. nach Determinismus und Freiheit, sowie d) nach Zufälligkeit und Notwendigkeit der Existenz der Welt bezieht. Dieser Thematik schreibt er in den Prolegomena ebenfalls die Fähigkeit zu, „die Philosophie aus ihrem dogmatischen Schlummer zu erwecken“18 (§ 50; s. Motto 2), und er betont zudem, daß sich hier der „Nutzen eines Systems der Kategorien“ ganz besonders deutlich zeige, und zwar so sehr, daß schon aus diesem einen Fall einer Tafel deren „Unentbehrlichkeit im System der reinen Vernunft hinreichend dargetan“ (§ 51) werde.19 Zu Hume steht nun diese Thematik in einem unmittelbaren Zusammenhang, weil Hume ja gerade von einem Begriff aus diesem Feld, eben dem der Kausalität, ausgegangen war und damit Kant den wesentlichen Anstoß gegeben hatte. Insofern nennt Kant hier nicht eine zweite Quelle seiner Erweckung, sondern stellt Humes Impuls in einen weiteren Kontext.20 Nur durch Kants allgemeinere und systematischere Fassung wird das gesamte Feld der antinomischen Struktur der Vernunft erkennbar: Kants System der Kategorien (das aus einem Prinzip entwickelt ist)21 stellt sicher, daß es genau vier solcher Antinomien geben kann und muß (A 409-420). Der späte Brief an Garve (s. Motto 3) verweist ebenfalls auf die Antinomien im Unterschied zu den (ebenfalls dialektischen) Fragen nach Gott und Seele, stellt sie jedoch bereits in der geordneten Form des Viererschemas dar, die Kant selbst erst relativ spät herstellte.22 Kants Ausführungen ergeben hier allerdings keine ganz eindeutige Chronologie, weil sie zum einen suggerieren, daß er in Antwort auf Hume die Tafel der Urteile und Kategorien fand, anhand der er dann auch noch die „Tafel der Grundsätze“ entwickelte (§ 39),23 und die er ebenfalls dazu benutzte, um die „Einteilung der Begriffe, welche über den physiologischen Verstandesgebrauch hinausgehen sollen“, die also dialektisch sind, zu leisten.24 Dies scheint das chronologische Verhältnis umzukehren oder die Situation zumindest stark zu vereinfachen. Systematisch gesehen wäre die Situation jedoch etwa so zu ordnen: Kant ging von Humes Kritik am Begriff der Ursache aus und erweiterte sie zu einer Kritik aller metaphysischen Begriffe. Diese Erweiterung führte ihn schließlich dazu, die positive Berechtigung des Gebrauchs der Kategorien ebenso einzusehen wie die notwendige Widersprüchlichkeit im transzendenten Gebrauch. Beide Einsichten sind eng miteinander verbunden, beinahe wie zwei Seiten einer Medaille. Die Darstellung in den Prolegomena betont zunächst Kants konstruktive Lösung (Vorrede) sowie die Bedeutung der Systematik der Urteils- und der übrigen Tafeln, und zwar für die Analytik wie auch für die Dialektik (in § 39). Erst in § 50 geht Kant dann in knapper Form auf die Antinomie ein, die die „Philosophie aus ihrem dogmatischen Schlummer“ wecken könne. Seine Erklärung der Bezeichnung „kosmologisch“ gibt dann einen entscheidenden Hinweis auf die Beziehung zu Hume. Dieses Wort verweist darauf, daß im Unterschied zur Betrachtung von Gott und Seele hier die Untersuchung zunächst ganz „in der Sinnenwelt“ verbleibt, dann aber die „Verknüpfung des Bedingten mit seiner Bedingung [...] so sehr [erweitert], daß Erfahrung ihr niemals gleichkommen kann“. Dadurch aber entsteht, von der Erfahrung ausgehend, eine „Idee, deren Gegenstand niemals adäquat in irgendeiner Erfahrung gegeben werden kann“. Dies aber entspricht genau dem Verfahren Humes, der darauf hinwies, daß bereits der unentbehrliche und scheinbar alltägliche, empirische Begriff der Ursache (und nicht erst Betrachtungen über Gott und Seele) zu den beschriebenen Schwierigkeiten führt.25
Darüber hinaus kann Kant in einem nächsten Schritt den Grund des notwendigen Widerstreits der Vernunft mit sich selbst aufdecken und damit die Antinomien zwar nicht beseitigen, wohl aber sie unschädlich machen und so Humes skeptisches Ergebnis vermeiden. Als entscheidenden Durchbruch sieht Kant später seine eigene systematische Arbeit an den Antinomien an, für die er 1769 ein „großes Licht“ (s. Motto 4) gefunden habe. Dieses bestand kurz gesagt darin, durch die Deutung von Raum und Zeit als Formen der Anschauung die Unterscheidung der Dinge als Erscheinung (in Raum und Zeit) gegenüber den Dingen „an sich“ (also unabhängig von Raum und Zeit) zu entwickeln. Genau diese Differenz bildet aber für Kant den Schlüssel zur Auflösung sämtlicher Antinomien und der gesamten „Dialektik der reinen Vernunft“. Zu dieser zentralen Einsicht brachte Hume zwar „kein Licht“, an dieses mußte Kant sich selbst heranarbeiten, aber er hatte immerhin einen Funken geschlagen.
Zusammenfassend könnte man in Anlehnung an Kants eigene Unterscheidung auf der letzten Seite der Kritik der reinen Vernunft (A 856)26 folgende Phasen unterscheiden: einen traditionellen dogmatischen Kant (bis ca. 1755)27, einen suchenden oder skeptischen, von Humes Problem aufgeschreckten Kant (ca. 1755 bis ca. 1769/70),28 und einen kritischen Kant ab etwa 1770;29 dabei wäre der Kant der Ausarbeitungsphase der Kritik der reinen Vernunft von dem kritischen Kant seit 1781 noch zu unterscheiden. Es ergibt sich so eine Skizze, nach der Kant seit etwa 1756 an einem Werk arbeitete, dessen endgültige Gestalt nach 20 bis 25 Jahren Nachdenken, Hinundherwenden und Ausarbeiten die erste Kritik von 1781 darstellt. In den Prolegomena gibt Kant somit eine teilweise verkürzte, aber insgesamt zutreffende und schlüssige Übersicht über seine gesamte philosophische Entwicklung bis 1781.30
We Anglo-Saxons tend to read the Critique as if its sole purpose were to give „an answer to Hume”.32 (Lewis White Beck, Essays on Kant and Hume, S. 24)
Die hier gegebene Skizze von Kants Entwicklung, die sich an seinem Verhältnis zu Hume orientiert, wirkt ziemlich einfach, natürlich und naheliegend; in der Forschung werden jedoch weitgehend ganz andere Antworten auf die Frage nach dem Aufwachen aus dem dogmatischen Schlummer gegeben. Dies hängt in der Regel mit vorangehenden Interpretationsentscheidungen zusammen.
Eine Möglichkeit liegt darin, entgegen Kants Bekenntnis in den Prolegomena, den Einfluß Humes gegenüber demjenigen von Leibniz insgesamt als gering einzuschätzen. So nimmt etwa Gerd Irrlitz Kants Ausführungen gar nicht erst für bare Münze, sondern spricht in seinem Kant-Handbuch (2002)33 von einer „poetischen Wendung vom Erweckungserlebnis“ und von einem „rhetorischen Gesamtsinn“ der ganzen Passage und versucht gar nicht erst eine Chronologie oder Datierung zu erstellen.34
Auch Interpreten, die den Einfluß Humes als entscheidend betonen, gelangen meist zu anderen Deutungen und zu einer kürzeren Zeitperspektive.35
Lewis White Beck gibt eine Einteilung in einen „Pre-Humean“ (bis 1755), einen „Quasi-Humean“ (ab 1763) und einen „Post-Humean“ (ab 1770) Kant, die mit der hier entwickelten Chronologie gut übereinstimmt; entscheidet sich dann jedoch dafür, die Rede vom Erwachen aus dem Schlummer auf die Lektüre Beatties um 1772 zu beziehen.36
Manfred Kühn stellte 1983 die These vor, daß nicht Humes Enquiry, sondern der Schlußabschnitt des ersten Buches des Treatise, der 1771 in der Übersetzung Hamanns unter dem Titel Nachtgedanken eines Zweiflers in der Königsberger gelehrten Zeitung erschien, Kant aus dem dogmatischen Schlummer weckte.37
In seiner Kant-Biographie (2003)38 spricht Kühn dann von zwei verschiedenen entscheidenden Ereignissen, nämlich einmal dem „großen Licht“ von 1769, und dann der „Entdeckung von Humes Problem“ (271) im Jahre 1771. Durch die radikalere Fassung des frühen Hume sei Kant wesentlich angeregt und in seiner Denkrichtung beeinflußt worden (233-237). Kühn bezieht hier diesen Impuls von 1771 durch Hume allerdings nicht mehr explizit auf das erste Aufwachen, sondern auf Kants angeblichen „neuen Dogmatismus“ der Dissertation (237), und bleibt bei der Darstellung der Prolegomena selbst eher unbestimmt (305-6).39
Lothar Kreimendahl betont in seiner Studie Kant – Der Durchbruch von 1769 (1990) sowohl die Bedeutung Humes als auch die Problematik der Antinomien und stellt zwischen beiden eine Verbindung her (41ff.). Er zeigt auf, wie Kant um 1769 in der Behandlung der Antinomien einen entscheidenden Fortschritt erzielt, der in der Dissertation von 1770 seinen Niederschlag findet. Kreimendahl versucht nachzuweisen, daß Kant 1769 nicht nur an der Antinomienproblematik arbeitete, sondern daß er darin auch von Hume direkt beeinflußt wurde, so daß beides auch zeitlich koinzidiere (145). Dies sei durch Kants Rezeption von Hamanns Humeübersetzung schon um 1768-9 ausgelöst worden. Zeit für ein langsames Durchdenken der Materie nach dem Erwachen aus dem dogmatischen Schlummer hatte Kant in dieser Darstellung jedoch nicht.40
Werner Steinhardt hat in einer ungedruckten und wenig beachteten Dissertation zu Kants Entwicklung der Kausaltheorie (Hamburg 1980) dafür argumentiert, daß die Anregung durch Hume so früh anzusetzen ist, daß die Schriften von 1762/63 bereits die „erste philosophische Antwort auf Hume“ darstellen (120-123)41. Diese bestehe in der „Trennung von logischem Grund und realer Ursache“ (199; vgl. die Zusammenfassung S. 187-8). Ab 1762/63 habe Kant nicht mehr an die Möglichkeit einer „Reform der bestehenden Systeme“ (144) geglaubt, die er zuvor noch angestrebt habe. Steinhardt verweist (198, Anm. 1) für den Grundgedanken seiner Gliederung auf eine ebenfalls wenig beachtete Artikelserie von Harald Höffding, Die Kontinuität im philosophischen Entwicklungsgange Kants (1894).42 Höffding sieht 1762-3 Kants „Gesamtstimmung“ als „entschieden antidogmatisch“ (381), er attestiert „einen Bruch mit der Philosophie der vorhergehenden Zeit“ (382) und kennt „keinen Zeitraum, für den der Ausdruck ‚Erweckung aus dem dogmatischen Schlummer‘ so gut passte, als hier“ (383). Er erläutert auch den Charakter der Erweckung derart, daß Kant sich erst im Rückblick vollständig über dessen Bedeutung klar wurde (386), und erklärt das zwangsläufig relativ „negative Gepräge“ (450) der Schriften dieser Zeit. Um 1762 erkannte Kant, „daß die Begriffe, mit denen man bisher in der Philosophie operiert hatte, unbrauchbar, unfertig seien“ (467). Höffding kann seine Befunde zur Chronologie allerdings nicht für eine schlüssige systematische Deutung fruchtbar machen (vgl. etwa die Seiten 384 bis 402).43
Benno Erdmann, der erste Herausgeber der Reflexionen Kants schreibt 1884, unter Bezug auf das Vorwort der Prolegomena: „Kant selbst hat bekanntlich den früher weit verbreiteten Irrtum, daß der entscheidende Einfluß Humes auf ihn in die Zeit um 1762 zu verlegen sei, [...] nahe gelegt.“ Ergänzend gibt er offen zu: „Allerdings ist nicht zu leugnen, daß jemand, der die Kritik der reinen Vernunft mit den Hauptinhalten der Träume eines Geistersehers vergleicht, mit den meisten Interpreten Kants zu dem entgegengesetzten Urteil [gegenüber Erdmanns späterer Datierung; W.K.] kommen muß.“ Erdmann geht vom Gesichtspunkt einer jeweils vertretenen Lehre aus, betont zu Recht, daß Kant nie bekennender Skeptiker war, und sieht sich dadurch zu einer späteren Datierung gezwungen, die mit Kants oben angeführten Berichten unvereinbar ist: „Hume wird eben erst 1772 zu dem Vorgänger, der auf der Spur des Richtigen angefangen hat; bis dahin ist er der Skeptiker, der nichts bietet, womit er auf die regsame Vernunft Einfluß nehmen kann.“44 Ein Hauptvertreter der von Erdmann kritisierten Auffassung ist Kuno Fischer, der Kant in den 1760er Jahren unter Humes Einfluß und schließlich um 1766 „in schärfster Übereinstimmung mit Hume“, auch hinsichtlich der skeptischen Folgen, findet. Die Ablehnung der Folgen datiert Fischer erst auf 1770, und so glaubt auch er, Kants Darstellung korrigieren zu müssen: „In jener Erklärung, die er achtzehn Jahre später gab, steht er über ihm so hoch, daß er sich kaum mehr erinnert, je unter ihm gestanden zu haben.“45 Vielleicht kann eine konsequente und dabei umsichtige Orientierung an Kants eigenen Aussagen in diese Fragen doch noch am meisten Licht bringen.46
1 In der sehr umfangreichen Literatur zu Kant gibt es einige ähnliche Vorschläge; mir ist jedoch bisher keine konsequente Durchführung dieses Gesichtspunkts bekannt. Der Forschungsbericht in L. Kreimendahl, Kant – Der Durchbruch von 1769, Köln 1990, nennt einige frühe Datierungen des Hume-Erlebnisses (26-38).
2 Kant weist hier in einer Fußnote darauf hin, daß Hume trotz seiner radikalen Kritik an der Metaphysik dieses Wort bisweilen trotzdem zur Bezeichnung seiner eigenen Untersuchungen verwendet. Dies entspricht Kants eigener Ambivalenz in dieser Frage, die besonders deutlich im vollständigen Titel der Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können hervortritt: Kant zerstört sämtliche frühere Metaphysik von Grund auf, präsentiert aber seine eigene kritische Transzendentalphilosophie, die er von der Metaphysik klar abgrenzt, zugleich als Vorarbeit einer „künftigen Metaphysik“ (oder auch als „Metaphysik der Metaphysik“), obwohl diese künftige mit der früheren Metaphysik kaum mehr als den Namen gemeinsam haben kann.
3 Kant nennt keine Quellen für seine Kenntnisse dieser Autoren; ihre namentliche Erwähnung an dieser Stelle (vor dem Bericht über sein eigenes Aufwachen) läßt es jedoch als möglich erscheinen, daß Kant zumindest teilweise gerade durch diese Mißdeutungen (die nach Kant nicht „ohne eine gewisse Pein zu empfinden“ rezipiert werden können) zu seiner eigenen Ausarbeitung motiviert wurde.
4 Kant stellt die Sache hier so dar, als habe er sogleich die Antwort auf Hume, oder zumindest die Grundidee einer Antwort gehabt. Dies paßt dazu, daß die Prolegomena Kants Antwort präsentieren, nicht aber Humes Zweifel erörtern. Eine genauere Darstellung von Kants langem Weg zu einer solchen Antwort muß anderen Stellen entnommen werden. Buchstäblich genommen würde der Bericht der Vorrede nahelegen, daß Kant um 1768-9 von Hume geweckt wurde, und dann sogleich die Systematik der Antinomientafel als Antwort entwickelte, woran sich die transzendentale Deduktion anschloß. Schon Kants eigene Äußerungen im weiteren Verlauf der Prolegomena, ebenso wie seine Einteilung in eine dogmatische, eine skeptische und eine kritische Phase der Philosophie (s.u.) schließen aber eine solche Deutung aus.
5 Diese Betonung der Verknüpfung verweist auf den grundsätzlich synthetischen, verbindenden Charakter aller Metaphysik; diese kann daher, entgegen der Meinung von Leibniz, nicht auf dem Satz vom Widerspruch beruhen. Der Satz vom Grund ist nach Leibniz nun so zu verstehen, daß er auf Urteile zutrifft, die zwar ebenfalls auf dem Satz vom Widerspruch beruhen, die aber zu komplex sind als daß wir dies einsehen und nachvollziehen können. Leibniz unterscheidet daher gerade nicht grundsätzlich analytische und synthetische Urteile, sondern spricht nur von einem Gradunterschied innerhalb der analytischen Urteile. Erst durch Hume, nicht durch Leibniz, wird Kant dann auf die Unterscheidung analytischer und synthetischer Sätze und damit auf die wahre Natur der Metaphysik gestoßen. Kant sieht sich als Nachfolger und Verbesserer von Hume und nicht von Leibniz.
6 Hume schien eine Deduktion, die die Berechtigung der Kategorien überhaupt bzw. der Kategorie der Kausalität erweisen sollte, unmöglich, weil aus der Vernunft unbegründbar; alle anderen Philosophen wären gar nicht auf die Idee gekommen, eine solche Deduktion auch nur zu versuchen, weil sie (immer noch im dogmatischen Schlummer befangen) die Berechtigung der Kategorien unbegründet einfach voraussetzten.
7 Trotz dieses Hinweises bleibt es etwas unklar, warum die Deduktion so über alle Maßen schwer war, nachdem Kant die übrige Arbeit, nach einmal gefundenem richtigem Gesichtspunkt, eher als leicht und naheliegend schildert.
8 In seinem Brief an Herz vom 21.2.1772 berichtet Kant davon, er habe vor kurzem bemerkt, daß ihm „noch etwas Wesentliches mangele“, das aber den „Schlüssel zu dem ganzen Geheimnisse, der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphysik ausmacht“. Dies formuliert er dann so: „Auf welchem Grunde beruhet die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand?“ Dieser Brief nennt allerdings Hume nicht.
9 In dem in der vorigen Anmerkung zitierten Brief schreibt Kant weiter, er habe bereits „alle Begriffe der reinen Vernunft in eine gewisse Zahl von Kategorien“ gebracht, und zwar systematisch so „wie sie sich selbst durch einige wenige Grundgesetze des Verstands von selbst einteilen“.
10 Der Titel dieser letzten, anläßlich seiner Übernahme des Lehrstuhls für Logik und Metaphysik auf Latein verfaßten Qualifikationsschrift Kants, die erstmals die raumzeitliche Welt der Erscheinungen von der reinen Verstandeswelt systematisch begründet unterscheidet, lautet: De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen).
11 Die „Erinnerung“ an das genannte Problem betrifft einen einzigen, aber dafür entscheidenden Punkt, auch die Rede vom „Funken“ paßt dazu. Der grundsätzliche Einfluß Humes ist daher durchaus damit vereinbar, daß Humes Name und konkrete Lesespuren in einschlägigen Schriften und Aufzeichnungen Kants während dieser langen Zeit relativ selten vorkommen.
12 Prolegomena § 3. Kant kommentiert Lockes Hinweis dahingehend, daß bei Locke zwar etwas Wichtiges steht, daß ein Leser dies jedoch nur dann in seiner Bedeutung erkennen kann, wenn er den Hinweis gar nicht mehr braucht: „Man muß durch eigenes Nachdenken zuvor selbst darauf gekommen sein, hernach findet man sie auch anderwärts, wo man sie gewiß nicht zuerst würde angetroffen haben, weil die Verfasser selbst nicht einmal wußten, daß ihren eigenen Bemerkungen eine solche Idee zum Grunde liege.“ Daher konnte Locke kein Aufwachen aus dem dogmatischen Schlummer bewirken, obwohl er die Grundidee, wenn auch unklar, bereits formuliert hatte (und nach Kant hatte selbst Hume den Gedanken bei Locke nicht verstanden). Dieses Beispiel zeigt im übrigen, daß Kant sehr wohl den Sinn von Literaturangaben kennt. Auch der einzige Literaturhinweis Kants auf eine Schrift Humes, die einen Essay betrifft, in dem Hume das Wort „Metaphysik“ affirmativ verwendet, legt es nahe, daß Kant Gründe hatte, anzunehmen, daß er auf „Humes Problem“ solche spezielleren Hinweise nicht zu geben brauchte. Dies macht es sehr unwahrscheinlich, daß Kant sich auf den damals schwer zugänglichen Treatise bezieht – denn dann wäre ein expliziter Literaturhinweis angebracht gewesen. Vielmehr verweist Kant auf den allgemein bekannten Hume der Versuche (oder Untersuchung) über den menschlichen Verstand. Kants Kenntnisse des Treatise sind dadurch allerdings keineswegs ausgeschlossen.
13 Kant charakterisiert hier seine ursprünglich dogmatische Ablehnung der Skepsis, die er zunächst gar nicht als ernst zu nehmendes Problem ansah, auf das er zu reagieren hätte. Dies änderte sich erst nach dem Impuls durch Hume. Die Rede davon, daß er dem Zweifel zunächst kein Gehör gab, könnte (wenn sich dies auf Hume beziehen sollte) auch so zu verstehen sein, daß Kant eine Weile brauchte, bis er Humes Zweifel in seiner Bedeutung richtig einschätzte.
14 Diese Reflexion berichtet nur vom theoretischen Umschwung, nennt aber keine Namen und bricht ab, bevor geklärt wird „wie überhaupt ein Erkenntnis a priori möglich sei“.
15 Daher ist die vereinzelte Verwendung des Wortes „dogmatisch“ in späteren Texten Kants kein Beleg dafür, daß er sich in einem dogmatischen Schlummer befindet. Entscheidend ist, daß die ruhige Arbeit innerhalb einer bestehenden Wissenschaft für ihn nicht mehr möglich ist. Mit T.S. Kuhn könnte man formulieren, daß Kant durch Hume aus der normalwissenschaftlichen Phase herausgerissen wird, allerdings ohne bereits ein neues Paradigma zur Verfügung zu haben (da er Humes skeptische Lösung ja ablehnt), und daß er dann mühevoll ein neues Paradigma für die Philosophie entwickelt. (Eine Zeit ohne Paradigma widerspricht allerdings Kuhns Auffassungen.)
16 Kants Veröffentlichungen und Vorlesungen dieser Zeit sind unter diesem Gesichtspunkt gesondert zu prüfen. Dies wird an anderer Stelle geschehen.
17 Dieser erst um 1795 verfaßte Bericht ist kein direkter Beweis für ein frühes Aufgewecktwerden durch Hume, ergänzt aber die sonstigen Indizien.
18 Bereits in der KrV spricht Kant im gleichen Zusammenhang der Antinomie von einem „Schlummer“; allerdings so, daß die Vernunft durch die Antinomie „vor dem Schlummer einer eingebildeten Überzeugung, den ein bloß einseitiger Schein hervorbringt“ (A 407) bewahrt wird, und er erwähnt die beiden Reaktionen der „skeptischen Hoffnungslosigkeit“ und des „dogmatischen Trotzes“, nennt aber beides den „Tod einer gesunden Philosophie“. Dieser Darstellungsweise fehlt der systematische Raum für einen zufriedenen „dogmatischen Schlummer“ samt Erweckung daraus.
19 Nach Kant zeigt seine Urteilstafel auf, daß „die Antinomie der reinen Vernunft“ es mit genau den vier folgenden, einander widerstreitenden Behauptungen zu tun hat: 1. Die Vernunft fordert, daß die Welt in Raum und Zeit der Größe (der Quantität nach) nach einen Anfang oder eine Grenze haben muß, – aber auch daß sie grenzenlos und also unendlich ist. 2. Die Vernunft fordert, daß die Welt ihrer materiellen Beschaffenheit (der Qualität nach) nach aus Einfachem besteht, – aber auch, daß sie ins Unendliche teilbar sein muß. 3. Die Vernunft fordert, daß die Welt in der Beziehung (der Relation nach) der Ereignisse aufeinander Freiheit, also unverursachte Anfänge kennt, – aber auch, daß nur eine durchgehende Naturkausalität besteht. 4. Die Vernunft fordert schließlich, daß in der Welt irgendein notwendig existierendes Wesen besteht, – aber auch daß alles in ihr (der Modalität nach) ganz und gar zufällig ist. Kants Lösung beruht in jedem Fall auf der Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich.
20 Viele Interpreten sehen in den beiden Hinweisen Kants eine doppelte, wenn nicht unvereinbare Auskunft über den ersten Anstoß zu seiner kritischen Philosophie. Für die Zwecke der hier angestellten Überlegungen soll zunächst nur das Bestehen eines inneren, systematischen Zusammenhangs zwischen beiden Angaben behauptet werden. Die Ausarbeitung der vierfachen Antinomie gehört zeitlich zu einer späteren, detaillierteren Reaktion auf Hume als die hier zunächst verfolgte Frage nach dem ersten, grundlegenden Anstoß durch Hume. Eine ausführliche Darlegung der Ausarbeitung der Antinomienproblematik, mit einer Rekonstruktion ihres inneren Zusammenhangs, bietet Kreimendahl, Durchbruch (wie Anm. 1).
21 Als Prinzip nennt Kant die „Funktion des Urteilens“, die er als Verknüpfung bestimmt, wodurch sich die allgemeine Form von Verknüpfung überhaupt (wovon die Verknüpfung von Ursache und Wirkung nur ein Spezialfall ist) entwickeln lasse. Das Wesen des Verstandes besteht genau darin, durch diese „Funktion des Urteilens“ Verknüpfungen herzustellen; und diese Verknüpfungen lassen sich, so Kant, in einer Tafel aller möglichen Urteile bzw. in einer davon unmittelbar abgeleiteten Tafel der Kategorien systematisch und vor allem vollständig darstellen. Kant erwähnt, daß er die „fertige, obgleich noch nicht von allen Mängeln freie Arbeit der Logiker“ dazu nutzte (Prolegomena § 39). Eine sorgfältige Rekonstruktion von Kants Argumentationen für die Vollständigkeit findet sich in M. Wolff, Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel, Frankfurt am Main 1995. Eine überzeugende Lektüre von Kants gesamtem kritischem Werk am Leitfaden seiner wiederholt eingesetzten Tafeln fehlt bisher.
22 In seinem Brief an Herz vom 11.5.1781 schreibt Kant, daß eine populäre Darstellung seiner Philosophie von „demjenigen, was ich unter dem Titel der Antinomie der reinen Vernunft vorgetragen habe“ hätte anfangen können, „welches in sehr blühendem Vortrage hätte geschehen können und dem Leser Lust gemacht hätte, hinter die Quellen dieses Widerstreites zu forschen“. Diese Idee hat Kant nie umgesetzt. – Bereits in der Nova Dilucidatio (1755) erörtert Kant das Problem der Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus und argumentiert dafür, daß auch freie Handlungen vorgängig bestimmt sein müssen, da Gott sonst selbst bei vollständiger Voraussagefähigkeit diese Handlungen, eben weil sie noch gar nicht bestimmt sind, gerade nicht voraussehen könnte. Humes Analyse, nach der die Verbindung zweier Ereignisse durch bloße Vernunft in keinem Fall vorhergesehen werden könne, mußte daher auf Kant als Provokation wirken (Hume, Menschlicher Verstand, Abschnitt 4). Kant war also seit 1755 darauf vorbereitet, die Analysen Humes sehr ernst zu nehmen.
23 Als letztes Element nennt Kant noch die Tafel von „Etwas und Nichts“ (A 292), die ebenfalls dem gleichen Prinzip entstamme.
24 Dafür gibt Kant in § 39 explizite Stellenangaben für die Tafel der Paralogismen (A 344) und der Antinomien (A 415) der reinen Vernunft.
25 Kants Reaktion könnte man an dem Scherz illustrieren: „Die Wissenschaft hat herausgefunden, daß Hummeln nicht fliegen können; sie fliegen nur deshalb weiter, weil sie das noch nicht wissen.“ Hume hatte eine sehr überzeugend wirkende Analyse vorgelegt, aus der hervorzugehen schien, daß der Verstand die Kategorie der Kausalität, die er überall anwendet, nicht begründen kann. Kant sah dagegen die Hummel fliegen und suchte so lange bis er die Antwort auf Humes Analyse gefunden hatte und das offensichtliche Faktum des Hummelflugs bzw. der Vernunft nicht nur konstatieren, sondern auch rechtfertigen konnte.
26 Kant nennt Wolff als Vertreter der dogmatischen, Hume als Vertreter der skeptischen, und spielt auf sich selbst als Vertreter der kritischen Phase der Philosophie an.
27 Für eine genauere Datierung fehlen weitere Belege.
28 Die Rede von „Skepsis“ ist hier insofern zweideutig, weil Kant sie bisweilen auf Hume bezieht, der seiner Ansicht nach die Skepsis als die richtige und endgültige philosophische Haltung ansieht (Skepsis als Antwort oder Position), während der Ausdruck auch auf Kant selbst während der Zeit, in der er noch keine Antworten auf seine Fragen gefunden hatte (Skepsis als Zwischenzustand), bezogen werden kann.
29 Die bekannten Aussagen Kants, die Kritik sei „das Produkt des Nachdenkens von einem Zeitraume von wenigstens zwölf Jahren“ (an Mendelssohn, 16.8.1783) und es handle sich dabei um „Materien, die ich mehr als 12 Jahre hintereinander sorgfältig durchgedacht hatte“ (an Garve, 7.8.1783) beziehen sich daher auf die tatsächliche „schulgerechte“ Ausarbeitung der Konzeption der Kritik im Anschluß an das Erreichen der Grundidee, nicht auf die Zeit seit dem Erwachen aus dem dogmatischen Schlummer.
30 Der Bericht der Prolegomena ist dabei nicht als schlichte Feststellung der Fakten, sondern als Selbstdeutung anzusehen: Die Grundlinie seiner Entwicklung, wie auch die Grundidee seiner kritischen Philosophie, kann durch die Auseinandersetzung mit Hume am klarsten dargestellt werden kann, und ergibt so den besten Sinn.
31 Die folgenden Ausführungen sollen einige Positionen kurz charakterisieren, eine eingehendere Auseinandersetzung muß einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben.
32 Tatsächlich ist nicht nur die Kritik der reinen Vernunft selbst, sondern Kants gesamtes Werk seit 1760 der Antwort auf Hume gewidmet. Die erste größere Schrift nach diesem Termin, vom Einzig möglichen Beweisgrund (1763) würde dann den Beginn der Transzendentalphilosophie markieren.
33 G. Irrlitz, Kant-Handbuch, Stuttgart und Weimar 2002; die Zitate darin S. 51 und 270.
34 Die Darstellungen des frühen Kant bei Hinske, Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, Stuttgart 1970 und Henrich, Kants Denken 1762/3, in: Studien zu Kants philosophischer Entwicklung, Hildesheim 1967, S. 9-38, erwähnen Hume nicht einmal.
35 Insbesondere Hamanns Übersetzung des Treatise-Abschnitts hat die Forschung teilweise auf falsche Geleise gelenkt. Eine dramatisch besonders ausgeschmückte Darstellung der angeblichen Humekrise von 1771 gibt Manfred Geier, Kants Welt (Reinbek 2003), S. 141f. und 151f.
36 L.W. Beck, Essays on Kant and Hume, New Haven 1978, S. 113-115 und 118f.
37 M. Kuehn, Kant’s Conception of Hume’s Problem, in: Journal of the History of Philosophy 21, 1983, S. 175-193; hier S. 186.
38 M. Kühn, Kant. Eine Biographie, München 2003 (zuerst englisch: Cambridge 2001).
39 Nach Kühn müßte man wohl (mindestens) zwei verschiedene Anstöße durch Hume annehmen. Zahlreiche Hinweise in Kühns Buch passen gut zur hier vorgeschlagenen Chronologie; insbesondere die Darstellung der Jahre von 1755 bis 1769, in der Kant nicht dieser oder jener Meinung anhängt, sondern als der große Zögerer (der „Fabius Cunctator“) erscheint, der geduldig auf den richtigen Gesichtspunkt bzw. Zeitpunkt wartet (209ff.).
40 Kreimendahls ausführlicher Forschungsbericht (vgl. Anm. 1) über Vorschläge zur Datierung der „Erweckung“ (26-50) nennt als Argumente dafür die „in den Schriften der frühen sechziger Jahre fraglos enthaltene Skepsis dem Kausalitätsprinzip gegenüber“ und „Kants schon für die fünfziger Jahre nachweisbare Hume-Kenntnis“, nicht aber Kants eigenen Bericht. Kreimendahl verwirft sie jedoch, hauptsächlich unter Verweis auf die „große zeitliche Entfernung, in welche die KrV damit zur ‚Erweckung’ gesetzt“ (26) würde. Dieser große Zeitraum wird durch den Bericht der Prolegomena jedoch geradezu gefordert.
41 Dieselbe Chronologie schlägt auch Georg Klaus in seiner Einleitung zu Kants vorkritischen Schriften vor: Unter dem Einfluß Humes (auch wenn Klaus den „dogmatischen Schlummer“ nicht erwähnt) habe Kant den „Bruch mit der Wolffschen Schulphilosophie vollzogen“. Als Folge galt es also, „eine neue Philosophie aufzubauen“ und den „ersten Versuch zum Aufbau einer solchen neuen Philosophie machte Kant mit seiner Schrift [vom Beweisgrund]“. G. Klaus, Einleitung: Die Frühschriften Kants – ihre philosophiehistorische und wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, in: I. Kant, Frühschriften, Band 1, Berlin 1961, S. VII-XCII, hier S. LXXXII-III.
42 Höffding, Die Kontinuität im philosophischen Entwicklungsgange Kants, in: Archiv für Geschichte der Philosophie (1894), S. 173-192; 376-402 und 449-485.
43 Aus der älteren Literatur schlägt noch Karl Vorländer aus biographischen Erwägungen und ohne systematische Begründung einen ähnlichen Zeitrahmen vor: Immanuel Kant. Der Mann und das Werk, 2 Bände, Leipzig 1924 (3. A. Hamburg 1992), Bd. 1, S. 151-155.
44 B. Erdmann, Die Entwicklungsperioden von Kants theoretischer Philosophie, in: Reflexionen Kants zur Kritik der reinen Vernunft, Leipzig 1884, S. XII-LX, hier S. L und LV.
45 K. Fischer, Immanuel Kant. Entwicklungsgeschichte und System der kritischen Philosophie, Bd. 1, Mannheim 1860, hier S. 239 und 240.
46 Aus der neuesten Literatur ist noch zu nennen: Abraham Anderson, Hume’s Objection, der im Rahmen einer theologischen Deutung von Kants Motivation eine in wesentlichen Punkten ähnliche, wenn auch (um diese Motivation mit den Zeugnissen Kants zu vereinbaren) etwas verwickeltere Chronologie vorschlägt (in: Rethinking Kant, Vol. 2, hg. v. Pablo Muchnik, Newcastle upon Tyne, 2010, S. 81-120). – Für konstruktive und kritische Hinweise danke ich Hanno Birken-Bertsch und Lothar Kreimendahl.