Helmut Metzler
Als an der Logik interessierter Student der Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität und 1956 bis 1958 ebendort für dieses Fach als Assistent tätig, skizziere ich nachfolgend die Lehrsituation zum Fach Logik als Zeitzeuge.
Anfang der 1950er Jahre bestand am Philosophischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena eine diskussionsanregende Situation, insofern dass drei Lehrauffassungen zur Logik gelehrt wurden. Die Lehrenden waren der Lehrstuhlinhaber für „Logik und Erkenntnistheorie“ Prof. Dr. Hermann Johannsen, der Lehrstuhlinhaber für „Geschichte der Philosophie“ Prof. Dr. Paul F. Linke und der Lehrstuhlinhaber für „Dialektischen Materialismus“ Prof. Dr. Georg Klaus. Alle drei lasen abwechselnd – jeder je ein Jahr – die Logik, die jeweils in den ersten zwei Semestern den Studenten vorgetragen wurde. 1953 schied Klaus infolge seiner Berufung an die Humboldt-Universität zu Berlin in Jena aus, Linke 1955 infolge seines Todes und Johannsen 1956 infolge seiner altersbedingten Emeritierung.
1951 wurde in der DDR Philosophie als eigenständiges Ausbildungsfach mit dem Abschluß „Diplomphilosoph“ an drei Universitäten eingerichtet. Eine dieser Universitäten war die in Jena. Für die Erstsemester-Studenten las Johannsen 1951/52 „Geschichte der Philosophie“, während „Logik“ von Klaus gelesen wurde. 1952/53 vermittelte Johannsen den neu immatrikulierten Philosophie-Studenten die Logik, 1953/54 Linke. Teils bestand eine Einheitlichkeit in der Darstellung des Stoffes, nämlich soweit die traditionelle Logik Pate stand, teils fielen die Darstellungen auseinander. Dies veranlasste einzelne Studenten aus den höheren Semestern zusätzlich die Vorlesungen von Linke zu belegen. Meine Aussagen zu diesem zeitlichen Abschnitt der Vorlesungstätigkeit zur Logik stützen sich auf unterschiedlich vollständige Nachschriften.
Klaus eröffnete seine Vorlesung zur Logik mit einer kurzen erkenntnistheoretischen Einleitung. An deren Anfang steht die für die marxistische Philosophie maßgebliche „Grundfrage nach dem Verhältnis von Denken und Sein“. Diese wird von ihm im Einklang mit der öffentlichen Lehrmeinung so beantwortet, dass das Sein (gleichgesetzt mit Materie) primär gegenüber dem Denken ist. Es folgen Bemerkungen zum Erkenntnisablauf: Das logische Denken ist aus der Produktionstätigkeit entstanden. Das magische Denken entspricht einem niedrigeren Stand der Arbeit. Einführung der Begriffe „logische Konstante“, z. B. „ist“ in „S ist P“, und „logische Variable“, „S“, „P“ im vorangehenden Beispiel. Es folgt die entsprechende Darstellung der Syllogismusfigur. In einem Geschichtsexkurs werden Aristoteles, Leibniz und Saccheri besonders hervorgehoben: „Die mathematische Logik ist die Krönung der Logik im 20. Jahrhundert.“ Daran anschließend werden Kybernetik und Rechenautomaten als auf der Grundlage der Mathematischen Logik erreichte Erfolge genannt, „Logik ist ein gemeinsames, verbindendes Band der gesamten Menschheit.“ –
Als Begründer der Kybernetik nennt Georg Klaus „den USA-Friedenskämpfer Norbert Wiener“. Diese Angabe hebe ich deshalb heraus, weil zu dieser Zeit bereits der Kalte Krieg die Beziehungen zwischen Ost und West belastete. Weiter unten werde ich im Zusammenhang mit Meinungsstreit und Kritik darauf zurückkommen. –
Nach Ausführungen zum Erkenntnisverlauf mit Angabe eines Schemas zum Verhältnis von Idee und Begriff zur Materie ordnet Klaus die Logik in folgender Weise hier ein:
Die formale Logik befasst sich nur mit den fertigen Begriffen, nicht mit ihrer Entstehung oder der aktiven Wirkung ihrerseits auf die Materie. Die formale Logik betrifft also nur einen Teil des Erkenntnisvorgangs.
Was gehört zum Denken:
1. Das Subjekt, das denkt; es gibt keine Ideen losgelöst von der Materie;
2. der Denkprozeß selbst
3. der Gedanke als Erzeugnis des Denkens, seinerseits eng verbunden mit
4. Sprache und
5. dem Gegenstand des Denkens. Meistens ist er ein materieller Gegenstand. Jedoch können auch Gedanken Gegenstand sein, die ihrerseits aus der Abbildung der Materie entstanden sind, z. B. das Denken über die Symmetrie. Die Symmetrie selbst ist kein materieller Gegenstand.
Das Denken kann nicht ohne Subjekt, wohl aber das Subjekt ohne Denken existieren (Gegensatz Materialismus – Idealismus).
Bezogen auf die Erkenntnis werden die Verhältnisse „Wahrheit – Irrtum“, „absolut – relativ“, „Unbekanntes – Bekanntes“, „abstrakt – konkret“, „Analyse – Synthese“ und „Induktion – Deduktion“ abgehandelt. Darin eingebettet werden der „Satz vom ausgeschlossenen Dritten“ und in der Abgrenzung von der Dialektik der Satz vom verbotenen kontradiktorischen logischen Widerspruch. Bei beiden Sätzen werden aussagenlogische Formeln in der Schreibweise von Hilbert-Ackermann (gemäß ihres Buches Grundzüge der theoretischen Logik) benutzt.
Entsprechend der traditionellen Logik erfolgt der Aufbau: „Lehre vom Begriff“, „Lehre vom Urteil“, „Schlußlehre“ und „Methodenlehre“. In allen Abschnitten wird auf die mathematische Logik zurückgegriffen.
Die „Lehre von den Schlüssen“ wird verflochten mit der „Lehre von den logischen Gesetzen“ dargestellt. Einleitend hierzu werden erkenntnistheoretische Gedanken vorgetragen:
Denken ist erkenntnistheoretisch betrachtet Widerspiegelung der objektiven Realität. Darum ist es wichtig, festzustellen, welchen Gesetzen das Denken folgen muß, um diese richtig widerzuspiegeln. Die Gesetze sind nichts Erdachtes und auch nichts im Menschen von Anbeginn Vorhandenes. Sie sind Abbild der realen Welt.
Erkenntnistheoretische Aussagen begleiten den weiteren Text zur Logik.
Anschließend werden als eigene mathematisch logische Kapitel ausführlich der Aussagenkalkül und die Prädikatenlogik abgehandelt. Die Methodenlehre kommt sehr kurz weg. Spezielle, in passenden Abschnitten berücksichtigte, seinerzeit moderne Themen sind Modalurteile, Axiomatik und Modelltheorie.
Im Unterschied zu Klaus und auch Linke entwickelt Johannsen die logischen Bausteine unter Bezugnahme auf die Geschichte der Philosophie. Abschließend zur Urteilslehre wird von ihm kurz der Begriff der logischen Funktion thematisiert. Die mathematische Funktion hat dabei die logische als Voraussetzung. Während Klaus sich um eine Erneuerung der Logiklehre für Philosophiestudenten durch die Einbeziehung der mathematischen Logik verdient machte, verharrte Johannsen im traditionellen Logikkonzept. Kreisers kritische Einschätzung Johannsens wissenschaftlicher Arbeiten1 trifft zweifelsohne auch auf seinen Umgang mit der Logik in seiner Vorlesung zu. Was ihm aber zugute zu halten ist, ist sein anregender Umgang mit der Geschichte der Philosophie als Ummantelung der Logik.
Anders als beide vorangehend genannten Lehrauffassungen war die von Linke. Mit Klaus hat er gemeinsam den Brückenschlag zur mathematischen Logik. Diesen vollzieht er aber nicht mit einem laufenden Bezug auf deren Kalkül, sondern durch eine an Gottlob Frege anknüpfende philosophische Durchdringung tragender Begriffe und Grundsätze der Logik, z. B. des Begriffs der Funktion, des Zweiwertigkeitssatzes und des Begriffs der Logik selbst. Die Geschichte der Philosophie berücksichtigt er in Auswahl. Johannsen grenzt sich explizit nur beiläufig von der materialistischen Erkenntnistheorie ab, baut aber mittels der Philosophiegeschichte diese Abgrenzung aus. Linke dagegen schiebt gemäß der Mitschrift vom 29. 3. 1954 einen ausführlichen Exkurs über die – von den Marxisten (ohne diese namentlich zu nennen), wie oben zitiert von Klaus vertretene – Abbildtheorie ein. Dieser mitstenographierte Vorlesungseinschub umfasst in einer von einem Studenten des ersten Studienjahrganges, der also Logik zum zweiten Mal besuchte, sieben eng beschriebene Schreibmaschinenseiten. Das Stenogramm beginnt wie folgt:
Vorlesungseinschub: Erkenntnistheoretisches:
Die Abbildtheorie
Was ist die Abbildtheorie? Diese Bildtheorie ist eine bestimmte Antwort zunächst auf die Frage nach der sogenannten Bewusstseinstranszendenz! Sie ist eine Form des Versuches das Transzendenzproblem irgendwie zu lösen. Was ist dieses Transzendenzproblem? Es ist die Frage, woher kommt es, dass das Bewusstsein im Stande ist, gleichsam über sich hinauszugreifen.
Wieso ist es im Stande, etwas von sich selbst Verschiedenes zu erfassen? Es würde kein Transzendenzproblem geben, wenn überhaupt in der Welt nichts anderes vorhanden wäre als der einfach dahingleitende Strom des Bewusstseins (wie man sich ausgedrückt hat) […] Gefühle, Gedanken usw., also psychische Geschehnisse […] beziehen sich auf etwas, was sie nicht selbst sind. […] Diese Beziehung auf ein ‚etwas‘ hat Franz Brentano als die ‚intentionale Beziehung‘ erklärt. […] Wie intentionale Beziehung ist das ‚Abbilden‘ ebenfalls ein gleichnishafter Ausdruck.
Solange man sich dieses Gleichnishaften, dieses Metaphorischen, dieses bloß Bildhaften dieses Ausdrucks ‚Abbilden‘ bewusst ist, ist der Gebrauch dieses Wortes verhältnismäßig unschädlich. Wenn man sich dessen aber nicht mehr bewusst ist, dann ist es äußerst gefährlich.
Wenn man die Bildtheorie wörtlich nimmt, so ergibt sich 1. ein erkenntnistheoretischer Einwand.
Damit ein A Bild eines Originals O genannt werden kann, müssen wir doch das Original kennen. Ich muß schon wissen, wie das Original beschaffen ist, denn sonst könnte ich ja nie sagen, das betreffende andere sei ein Abbild. Das Original müßte mir dann bekannt sein, aber das ist ja gerade das Problem, wie ich zum Original selbst komme. So ist das Wort ‚Abbild‘, wenn man es nicht gleichnishaft nimmt, irreführend.
Der 2. Einwand ist mehr logischer Art (obwohl logische Elemente auch im ersten stecken)
Die Abbildtheorie führt auf einen Zirkel, denn sobald ich definieren will, was ein Abbild ist, werde ich wieder zurückgeführt auf das Vorhergehende (auf das Abbild). Denn, was ist ein Abbild? Es gibt keine andere mögliche Definition als: Ein Abbild ist etwas auf Grund dessen ich etwas anderes, ihm Ähnliches vorstelle. Da bin ich aber doch wieder beim Vorstellen, damit ist der Zirkel offenbar.
Anschließend wird ausführlich die Brentanosche Intentionalitätslehre in ihrer Fassung von 1905 dargelegt und im Beweisgang zu ihr intensiv auf das Erinnern eingegangen.
Nach dem Vorlesungseinschub bespricht Linke in Gegenüberstellung zur vorher dargestellten Begriffslogik als Inhaltslogik die Klassenlogik als Umfangslogik und daran anknüpfend den Unterschied in der Formalisierbarkeit von Klassenlogik und Aussagenlogik als Folge objektiven Unterschiedes beider. In der Schlußlehre wird am detailliertesten auf die Schlüsse aus einer Prämisse, die unmittelbaren Schlüsse, eingegangen. Der Abschnitt „Der Schluß aus mehreren Prämissen“ ist ausführlich der traditionellen Syllogistik gewidmet. Als ersten Satz hierzu findet sich in der Nachschrift:
Zunächst der Schluß aus zwei Prämissen. Er ist der Entscheidende, denn der Schluß aus mehreren Prämissen ist immer auf den Schluß aus zwei Prämissen zurückzuführen. […] Wir kennen nämlich die Transitivität der Implikation. […] In der Tat ist dieses Gesetz, dieses rein logische Gesetz von der Transitivität der Implikation, das Gesetz, auf dem die gesamte Schlußlehre beruht.
Zu den folgenden Ausführungen greift Linke mehrfach auf prädikatenlogische Symbolisierungen der mathematischen Logik zurück. Nachdem anhand von Beispielen die Transitivität der Implikation illustriert und der verdeckte Gebrauch bemängelt wurde, wird die mathematisch logische Praxis verteidigt:
Diese Darstellung ist etwas kompliziert, aber sie ist exakter, weil das Gesetz des Schließens deutlicher hervortritt. Aber wir müssen uns trotzdem mit der alten Logik befassen. Wir müssen das aus zwei Gründen:
1. Die gesamte logische Terminologie, die bis in die Wissenschaft hinein sich entwickelt hat und das anhand der Klassenlogik, die auf Aristoteles zurückgeht, muß man deshalb kennen.
2. Nicht alles, was als glänzend in der mathematischen Logik entgegentritt, ist auch wirklich Gold. Wir haben schon hingewiesen auf die Frage der Existenz.
Als syllogistischen Fehler bespricht Linke ausführlich die Quaternio terminorum, anhand deren er als ein Beispiel den subjektiven Idealismus zurückweist. Daran anschließend werden die syllogistischen Schemata und die Rückführbarkeit auf die verschiedenen Modi in der ersten Figur erörtert. Diese Gedankenkette schließt er mit folgender Bemerkung ab:
Man kann heute diese Beweise rein mit der mathematischen Logik führen. Das ist freilich eine sehr komplizierte Art und Weise. Man muß dafür sehr tief in logistische Erörterungen eingedrungen sein. Eigentlich ist das so, dass das Sache der mathematischen Logik ist. Und wir dürfen uns damit begnügen und sagen, man soll die mathematische Logik studieren, wenn man genau die Verhältnisse der einzelnen Schlüsse kennen will und zeigen will, welche Schlüsse berechtigt sind und welche nicht. Bei Hilbert-Ackermann kann man das nachlesen.
Nach dem Ausscheiden der drei dem Institut angehörenden Hochschullehrer wurde die Logik den Philosophiestudenten der Friedrich-Schiller-Universität von Lehrkräften der Leipziger Universität, zuerst von Dozent Dr. Johannes Horn, später von Dr. Förster, vermittelt (1956/1957). 1957/1958 wurde von mir als Seminarassistent der Vorlesungsstoff, der sich weitgehend auf die traditionelle Logik bezog, entsprechend dem Lehrkonzept von Klaus erweitert. Wie Klaus das Konzept dieser Leipziger bewertete charakterisiert eine Anekdote, die Professor Klaus Fuchs-Kittowski auf einer Veranstaltung zum 70. Geburtstag von Georg Klaus vorgetragen hat:
Mein erstes persönliches Zusammentreffen mit Georg Klaus begann m. E. sehr charakteristisch. Er begrüßte mich mit den Worten: Ach, Du kommst aus Leipzig – dort kämpfen ja einige immer noch gegen die mathematische Logik, es sind gute Recken, doch gegen Windmühlen kämpfen tapfere Recken selbst vergebens.2
Kreiser geht in seinem zitierten Werk mehrfach auf die Lehre der beiden Leipziger kritisch ein. Es wäre jedoch eine zu enge Sichtweise, würde die Logik nur unter dem Aspekt der Lehre gesehen. Drei Faktoren, die interessierte Studenten weitergehend mit Logik bekannt machten, waren wissenschaftliche Vorträge auswärtiger Hochschullehrer, Vorlesungen und Seminare, die zusätzlich zum Lehrprogramm angeboten wurden und schließlich die die philosophischen Auseinandersetzungen offenlegende Logikkonferenz von 1951 in Jena, an der Klaus und Linke als streitbare Köpfe aktiv eingreifend teilnahmen. Unter den wissenschaftlichen Vorträgen ist der von Prof. Dr. Gerhard Stammler hervorzuheben. Er war Angehöriger einer nichtstaatlichen Hochschule, der katholischen Ausbildungsstätte in Sachsen-Anhalt, und er vermittelte in seinem Vortrag Gedanken, die sich von den an der FSU den Philosophiestudenten vermittelten unterschieden. Mir selber war er schon vor seinem Vortrag an der FSU aus der Literatur bekannt, nämlich durch Deutsche Logikarbeit seit Hegels Tod (Berlin 1936). Der Vortrag regte mich an, weitere Veröffentlichungen von ihm durchzuarbeiten. Als außerhalb des Studienplans angebotene Lehrveranstaltungen sind zu nennen: Linke „Philosophische Psychologie“ (Vorlesung mit Kolloquium im Sommersemester 1952), „Logik II“ (Kolloquium im Wintersemester 1952 und Sommersemester 1953). In der „Philosophischen Psychologie“ finden sich etwa gleiche Gedanken, wie oben zur Abbildtheorie aus dem Stenogramm von 1954 zitiert. Die Analyse des Begriffs der Psychologie dient hier auch dazu, psychologische Elemente aus der – zwar explizit ungenannten – materialistischen Erkenntnistheorie zu beschreiben. „Logik II“ widmete sich ausführlich dem Thema „Hauptpunkte der Mathematischen Logik und ihre philosophische Begründung“. Linke formuliert dazu hier ein vielfach untersetztes Plädoyer. Während bei Klaus Frege keinen ausgezeichneten Platz findet, ist Freges Leistung und deren philosophische Komponente ein von Linke immer wieder, zwar kritisch begleitend, öffentlich vertretenes Anliegen – Sein bleibender Eindruck veranlasste mich zu meinen Aktivitäten, für eine Frege-Renaissance an der FSU, in der DDR und darüber hinausgehend mittels universitätsübergreifender wissenschaftlicher Veranstaltungen und Publikationen zu wirken.3 – Neben Frege spielen Denker wie Bolzano und Brentano auch in dieser Lehrveranstaltung Linkes eine hervorgehobene Rolle. Die ausführliche Wiedergabe von Gedanken aus den Vorlesungsnachschriften von Klaus und Linke erfolgt, um das Spannungsverhältnis, auf das Kreiser in Logik und Logiker der DDR eingegangen ist, verständlich zu machen. Zwei Gründe sind aus den zitierten Ausschnitten der Vorlesungsnachschriften ablesbar: Ein Gegensatz tritt in der unterschiedlichen Interessiertheit an den möglichen Aspekten einer Darstellung des Verhältnisses von Logik und Philosophie auf, ein zweiter bezüglich der Erkenntnistheorie. Letzterer ist so grundlegend, dass Linke einen ausführlichen Exkurs dazu einfügt. Dieser Exkurs zeichnet sich dadurch aus, dass Linke ausdrücklich die materialistische Abbildtheorie verwirft und damit, ohne ihn namentlich zu nennen, Klaus bzw. dessen im Jahr zuvor gehaltene Vorlesung angreift. Bemerkenswert ist beim Vergleich der Vorlesungsnachschriften, dass Klaus abbildtheoretische Bemerkungen an je ihm wichtig erscheinenden Abschnitten zur Logik nur mit wenigen Sätzen einfügt, während Linke in seinen Ausführungen zur Logik selbst Brentanos Intentionalitätslehre nicht einbaut. Diese ist für ihn offensichtlich nur ein Exkursthema, um für die Erstsemesterstudenten seine grundlegend verschiedenen philosophischen Positionen gegenüber der marxistischen Philosophie klar zu legen.
Um auf die weiter unten zu erörternden persönlichkeitsbezogenen Aussagen, die Kreiser aus Archivunterlagen entnommen hat, von Klaus und Linke, zurückkommen zu können, ist hier der Platz, um auf die drei Lehrveranstaltungsteilnehmer, deren Vorlesungsnachschriften mir vorliegen, etwas näher einzugehen. Wir waren drei Philosophiestudenten – alle drei aus dem ersten Studienjahrgang –, die an den außerhalb des vorgeschriebenen Studienplanes angebotenen Lehrveranstaltungen teilnahmen und in den Kolloquien dieser Hochschullehrer auch mitdiskutierten. Uns interessierten Studenten gaben die von den Professoren vorgetragenen gegensätzlichen Lehrmeinungen Denkanstöße. Sie waren auch Anlass, die eigenen Gedanken einer Kritik zu unterwerfen. Mich haben die etwas scharf zugespitzten gegenseitigen Bewertungen von Klaus und Linke, die Kreiser mitteilt, beim ersten Lesen überrascht. In hinter vorgehaltener Hand geführten Gesprächen hörten wir Äußerungen, dass Linke von Marxisten als Verbündeter gegen den Irrationalismus angesehen wurde, dass er aber auch ein „Schlitzohr“ sei. Um einen Informationskanal zu nennen, über den diese Einschätzungen uns erreichten, ist die Zugehörigkeit zu politischen Parteien von uns dreien aufschlussreich. Der stenographierende Mitstudent war Mitglied der SED, wir beiden anderen waren dies nicht. Er überbrachte uns die beiden Einschätzungen bezüglich Professor Linkes. Es ist anzunehmen, dass er, wenn er befragt wurde, auch in umgekehrter Richtung über die Lehrveranstaltungen Auskunft gab. Der Begriff des Verbündeten findet sich auch in Kreisers zitierten Aussagen von Klaus wieder.4 Der zweiten Bewertung Linkes habe ich seinerzeit keine Bedeutung beigemessen. Nachdem ich meine Nachschriften zu den angegebenen fakultativen Lehrveranstaltungen jetzt noch einmal durchgesehen habe, kann ich dieser Bewertung zustimmen. Sie ist für mich aber ein Positivum für Linke. Linke hatte umfangreiche politische Erfahrungen aus seinem langen Arbeitsleben. Er wusste, dass die marxistische Weltanschauung in der DDR für sich einen Alleinvertretungsanspruch als wissenschaftliche Ideologie und Philosophie vertreten musste, um mit dem sowjetischen Stalinismus vereinbar zu sein. Er stritt für seine philosophischen Positionen auf zwei Ebenen: In der Logikvorlesung nutzte er einen Exkurs für einen Angriff aus, in seinen Veröffentlichungen in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Universität konnte er seine Gegenpositionen unter dem politisch anerkannten Schirm der wissenschaftlichen Auseinandersetzung darlegen.
Kreiser zitiert eine ungewöhnlich scharfe Stellungnahme gegen Linke in einer Unterredung mit dem sowjetischen Philosophieprofessor Konstantinow:
Konstantinow: Ich möchte vor allen Dingen wissen, in welchem ideologischen Gewand ihr Gegner auftritt. Zwischen uns bestehen Meinungsverschiedenheiten. Aber alles das ist zweitrangig. Die Hauptsache: Wer ist ihr Gegner und wie kämpfen sie gegen ihn?
Klaus: 1. Der Kampf mit unseren Gegnern findet auf einer Reihe von Ebenen statt. Zunächst formal: In der DDR sind noch zwei Lehrstühle von Gegnern besetzt. Beide sind in Jena. Den Lehrstuhl für Logik hat der Neukantianer Prof. Johannsen. Geschichte der Philosophie wird auch von einem Logiker gelesen, Prof. Linke. Er ist eine Mischung von Bolzano, Brentano mit neopositivistischem Einschlag. Dort ist die Lage am schwierigsten. Das äußert sich auch organisatorisch, da Linke Institutsdirektor ist. Das ist der extremste Fall unserer Gegner in der DDR. Dort sagt er z. B. in Vorlesungen, Marx habe Hegel nie begriffen, der Materiebegriff von Lenin sei falsch, Stalin sei kein Philosoph usw. Jedoch ist die Publikationstätigkeit der beiden gering.5
Diese Unterredung fand am 27. 10. 1953 im Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin weniger als ein halbes Jahr nach den Unruhen vom 17. Juni statt. Wenn die Unterredung kein Politikum gewesen wäre, läge vermutlich darüber kein wörtliches Protokoll vor. Für ein Verständnis dieses Auftretens von Georg Klaus empfiehlt es sich, seine politischen Erfahrungen aus Jena als Hintergrund zu berücksichtigen.
Er war in Jena während seiner Tätigkeit an der Universität sowohl durch ein Mitglied der Universitätsleitung, den Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, als auch von Seiten der SED, der er zugehörte, in vergleichbaren pejorativen Bewertungen angegriffen worden. Gestützt auf Recherchen im Universitätsarchiv Jena zitiert Michael Eckardt den Text der Beurteilung durch den Prorektor Professor Hochkeppler:
Er arbeitet gegenwärtig immer noch […] an der Überwindung wesentlicher Fehler und Schwächen. An der Überwindung seines typisch kleinbürgerlichen Individualismus und Intellektualismus […]. Er bedarf zu seiner politischen Weiterentwicklung der Einschaltung in die praktische Parteiarbeit und der ständigen Anleitung und Kontrolle durch ein gutes Kollektiv.6
Derselbe Autor geht in einer anderen Veröffentlichung auf Angriffe gegen Klaus auf unterschiedlichen Ebenen ein: Georg Schneider – bekannt durch sein unkritisches Bekenntnis zum Lyssenkoismus in der Biologie – bemühte sich, einen Parteiausschluss von Klaus zu erreichen, indem er sich in einem Zug an die Parteiinstanzen von der SED-Betriebsgruppe bis zur Personalabteilung des Zentralsekretariats der SED und ebenso an staatliche Instanzen der Volksbildung auf unterschiedlichen Ebenen wandte.7 Walter Wolf, selbst unfähig eine philosophische Habilitationsarbeit vorzulegen, versuchte, die Dissertation von G. Klaus zu disqualifizieren.8 Im Thüringer Staatsarchiv in Rudolstadt, Bestand „SED-Akten“, lassen sich die politisch-ideologischen Auseinandersetzungen mit Klaus von 1948 bis 1951 verfolgen. Die Diktion der Angreifer war mehr als offensiv.
Kreiser zitiert aus dem Briefwechsel zwischen P. F. Linke und G. Jacoby, dass sich beide übereinstimmend in der Einschätzung von G. Klaus gegenseitig bestätigen. Dieser würde von Philosophie gar nichts verstehen und Logik mit mathematischer Logik gleichsetzen. Die Belegstellen stammen vom August 1954.9 Bezüglich des Verständnisses von Philosophie finden wir gemäß der Unterscheidung von Marx in der 11. Feuerbachthese in Linke einen Philosophen, der die Welt interpretierte, während Klaus an ihrer Veränderung teilhatte. Er durchbrach die ideologischen Vorbehalte gegen die Logik, die Kybernetik10 und die Semiotik im öffentlichen Bewusstsein der DDR. Durch eigene Erkenntnisbeiträge und durch das Auf-den-Plan-Rufen vieler wissenschaftlicher – insbesondere junger – Kräfte auf diesen Gebieten leistete er weltanschauliche Pionierarbeit.
Wenn man die Vorlesungen zur Logik der drei Jenaer Professoren hinsichtlich ihrer Verständlichkeit für in Logik und Mathematik ungeschulte Erstsemesterstudenten bewertet, so steht die von Linke an erster Stelle. Dies erklärt auch seine Beliebtheit unter Studenten. Sie nannten ihn freundlich „Papa Linke“.11
Die Logikkonferenz mit ihrer Diskussion auch über das Jahr 1951 hinaus hat Kreiser ausführlich in seinem schon mehrfach angeführten Werk beschrieben. Seine Bewertung der für die Logiklehre und für die Stellung der Logik im Wissenschaftsgebäude in der DDR von Klaus erbrachten Leistung deckt sich mit der seinerzeit von den Studenten diskutierten Meinung.
1 Lothar Kreiser, Logik und Logiker in der DDR. Eine Wissenschaft im Aufbruch, Leipzig 2009, S. 148.
2 Fuchs-Kittowski, Klaus: Kybernetik und Informatik als theoretische Grundlage der Automation der Informationsverarbeitung, in: Philosophie – Wissenschaft. Zum Wirken von Georg Klaus, Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Nr. 10/G, Berlin 1983, S. 75-89, hier S. 75.
[Anm. d. Hrsg.: Der Beitrag von H. Klotz in dieser Gedenkschrift enthält eine Darstellung der Jenaer Auseinandersetzungen um die Logik aus der Sicht eines überzeugten Klaus-Schülers: Erinnerungen an und Gedanken über Georg Klaus, S. 90-98.]
3 [Anm. d. Hrsg.:] Vgl. H. Metzler, Klarster Kopf unter den Begründern der modernen Logik. Zum 125. Geburtstag Gottlob Freges. In: Sozialistische Universität. Organ der SED-Parteileitung der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 27. November 1973. - Das Heft Friedrich Ludwig Gottlob Frege. Zur Aktualität seines Werkes. Wissenschaftliche Beiträge der FSU Jena 1976 („Wissenschaftliche Bearbeitung: Dr. Helmut Metzler“) enthält die drei Beiträge des ersten Frege-Kolloquiums in Jena (von L. Kreiser, H. Metzler und R. Lindner) sowie Nachdrucke zweier Aufsätze Freges. – Auch an der Vorbereitung und Durchführung der ersten großen Fregeveranstaltung war H. Metzler wesentlich beteiligt: „Begriffsschrift“. Jenaer Frege-Konferenz, 7.-11. Mai 1979, Wissenschaftliche Beiträge der FSU Jena (8, 548 S.) – Weitere Ausführungen, unter anderem zu den Bestrebungen, in Jena einen Frege-Lehrstuhl einzurichten, enthält das genannte Buch von L. Kreiser, S. 163-205 („Die Logik an der Universität Jena“).
4 Kreiser, a. a. O., S. 177.
5 Kreiser, a. a. O., S. 177f.
6 Michael Eckardt: Philosophie und Philosophen in Jena: Max Bense und Georg Klaus, in: Weißbecker, Manfred (Hrsg.): Gewalten, Gestalten, Erinnerungen. Beiträge zur Geschichte der FSU Jena in den ersten Jahren nach 1945, Jena 2002, S. 62.
7 Michael Eckardt: „… sich in die wissenschaftliche Welt allerbestens einführen können“. Max Bense, Walter Wolf und Georg Klaus zwischen Kooperation und Konflikt an der Universität Jena in den Jahren 1945 bis 1949, in: Uwe Hoßfeld/Kaiser, Tobias/Mestrup, Heinz (Hrsg.): Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena (1945-1990), Köln/ Weimar/ Wien 2007, S. 1929-1970, hier S. 1955f.
8 Ebenda.
9 Kreiser, a. a. O., S. 174, Anm. 131.
10 In der Vorlesungsnachschrift zur Logik von Klaus findet sich, wie oben wiedergegeben, der Verweis auf Norbert Wiener und auf die Kybernetik. Gegen Wiener und die Kybernetik gab es ideologische Vorbehalte. Um diese leichter zu durchbrechen, betont Klaus Wieners Engagement für den Frieden und die Bedeutung der Kybernetik für die Computerentwicklung.
11 [Anm. d. Hrsg.: Zu Linke, Frege und Jena vgl. auch: Uwe Dathe: Der „Geist“ Freges in Jena – Paul Ferdinand Linke. Ein Beitrag zur Jenaer Universitätsgeschichte. In: Gottfried Gabriel und Uwe Dathe (Hrsg.): Gottlob Frege. Werk und Wirkung, Paderborn 2000. - Eine kommentierte Liste der Veröffentlichungen Linkes, die auf Frege Bezug nehmen, findet sich in Uwe Dathe, Bibliographie. Literatur aus Freges Jenaer Umfeld, in: G. Gabriel/ W. Kienzler (Hrsg.), Frege in Jena. Beiträge zur Spurensicherung, [=Kritisches Jahrbuch der Philosophie, Band 2] Würzburg 1997, S. 149-159, hier S. 152f.]