Dietmar Gersdorf

Der Joker als Aufklärer - Jostein Gaarders philosophischer Roman Das Kartengeheimnis

Manche Bücher werden für gewisse Verlage erst dann interessant, wenn ihnen aus den unterschiedlichsten Gründen der kommerzielle Erfolg gesichert ist. Nach Sophies Welt, dem vermutlich größten philosophischen Publikationserfolg der letzten Jahrzehnte - ausgenommen die in riesigen Ausgaben herausgebrachten Renner des Genres Bibel, Marx-Engels-Werke oder Mao-Fibel - hat sich der Carl Hanser Verlag zu Veröffentlichung von Gaarders erstem Buch entschieden. Leider firmiert der gelbe Aufkleber auf dem ansonsten schön gestalteten Hardcover für ein Mißverständnis: Der Hanser Verlag mag ja für sich recht haben, wenn er meint, daß Das Kartengeheimnis Gaarders neuer Roman sei, für Gaarder jedoch ist er das alte Buch, der Vorläufer von Sophies Welt. Ein verlegerisch-kaufmännischer Fauxpas. Als mehr mag es nicht erscheinen, wenn er auch dem Kalkül kühler Marktstrategen in der Verlagsbranche entspricht und immerhin in Deutschland, wie selbst die Zeitschrift Brigitte zu berichten weiß, eine Million mal die Kassen bei einem Preis von 39,80 DM klingeln ließ.

Wer Gaarders Stil in Sophies Welt her kennt, findet nichts Überraschendes mehr. Wer aber mitdenken will, wird nicht enttäuscht. Und je reiner und drängender das (hoffentlich noch vorhandene) Kind in der Brust des Lesers auf sein Vergnügen pocht, um so größer wird es angesichts einer klaren Sprache sein. Anhänger einer kryptischen und mystischen Schreibweise werden vergebens nach der großen Weltliteratur à la Thomas Mann, Hermann Hesse oder Jean Paul Sartre suchen. Eher finden sie einen Stil, der an Graham Green, Agatha Christie und Thomas Bernhard erinnert, von denen niemand vollen Ernstes behaupten würde, sie seien Schriftsteller niederer Provenienz.

Das Leben ist schon kompliziert genug, man muß nicht unverständlich darüber schreiben. So oder so ähnlich könnte man Gaarders Versuch verstehen, Licht in das Dunkel einer um sich greifenden semiotischen Patience zu bringen, die schließlich ihren magischen Zirkel um den Menschen und seine Welt zieht.

Der Protagonist Hans-Thomas, zwölfjähriger Bewunderer seines "den Trauben verfallenen" und bemerkenswert philosophisch diletierenden Vaters, begibt sich auf die Suche nach seiner Mutter Anita. Diese mußte, wie es bei Kartengeheimnissen gar nicht anders sein kann, von Wer-weiß-was getrieben, hinaus in die Welt, um sich selbst, das heißt eine zweitklassige Karriere als Model, zu finden. Sie findet sich in Athen (neugriech. ) und wird dort auch gefunden, nämlich von ihrem Sohn und im Stich gelassenen Ehemann. Letztere sind sich bereits vor ihrem Aufbruch aus dem Norden darüber einig, daß sie der seit acht Jahren Vermißten eine neue familiäre Chance geben wollen und integrieren sie, jeder aus seiner Sicht freilich, in ihr Sohn-Vater-Verhältnis. Warum überhaupt nach Griechenland aufgebrochen wird? Lesen Sie doch, ganz nach Belieben, ANITA (Mutter) oder ATINA (Ortseingangsschild einer griechischen Großstadt mit fünf Buchstaben) rückwärts. Es ist ein Kartengeheimnis der leichteren Art. Außerdem hat jemand aus Hans-Thomas Heimatort in einem Zeitungskiosk auf Kreta die modelnde Mutter Anita auf dem Cover einer griechischen Modezeitschrift entdeckt. Grund genug, um kombinatorisch auf Griechenland als Reiseziel zu kommen.

Das wäre eigentlich schon das Skelett der Fabel, wenn nicht noch allerlei erzählerische Ebenen (d.h. Gebirge, die schweizerischen Alpen und mysteriöse Inseln) wären, die Hans-Thomas und sein Vater auf der Suche nach Anita, verschiedentlich durchqueren müssen. Bevölkert werden diese von Purpurlimonade pichelnden Zwergen, Großvätern, sonstigen Ahnen und - selbstverständlich - abstinenten Millucken. Benutzer des Computerprogramms Ways 2 werden schnell herausbekommen, was Millucken sind, selbst wenn sie das Buch nicht lesen sollten, indem sie ganz einfach dieses Wort eintippen. Falls Sie hingegen das Buch doch lesen, werden sie (mindestens) einen kleinen Unterschied entdecken. Aber auch das ist ein Kartengeheimnis.

Am Ende sieht es der geneigte Leser fast schon als gesicherte Erkenntnis an, daß ein Kartenspiel mit 52 Karten nicht nur aus Pappe, Farbe und einer Spielanleitung besteht und von querulanten Jokern ergänzt wird. Darüber zu berichten, was für eine Zahlenmystik man mit den Zahlen 52, 1 und 2 betreiben kann, ist Sache des Autors und nicht des Rezensenten.

Mit dem Stichwort Joker sind wir bei einem der wichtigsten Themen des Buches angelangt: Der Joker ist, so kann man lesen, ein Bannerträger der Aufklärung und vom ewigen Drang nach Erkenntnis seiner Herkunft geplagter, nonkonformistischer Nachdenker. Selbstverständlich sind auch Philosophen Joker, also z.B. Hans-Thomas Vater, der allerdings sein Brot als Seemann und Maschinist und nicht als Akademiker verdient. Ein guter Hinweis darauf, daß das Philosophsein nicht identisch mit einer akademischen Anstellung sein muß. (Gaarder unterschiedet hinsichtlich der Spezies Philosoph anhand des Gattungsmerkmals Laienhaftigkeit folgende zwei große Subspezies: Halblaien, das sind Professoren in akademischer Bestallung und Vollaien, darunter zählen alle akademisch nichtbestallten, freien Denker.) Der vollaienhafte Vater-Philosoph sammelt sogar Joker - wie sein Schöpfer Gaarder übrigens auch. Obwohl man nichts Ungerechtfertigtes vermuten soll: Nicht nur die Jokersammelleidenschaft des Vaters läßt Autobiographisches seitens Gaarders vermuten.

Einfallsreich ist die Inselgeschichte beschrieben: Nach einem Schiffbruch rettet ein Seemann außer sich nur ein Kartenspiel auf eine zunächst unbewohnte Insel und vertreibt sich die Zeit mit Patiencen. Da dies zu langweilig und er auf's äußerste einsam ist, beginnt er, mit den Karten zu reden. Als nächstes ordnet er einen höchst komplizierten Diskurs mit den Karten und irgendwann danach laufen ihm am hellerlichten Tage die zu materieller Existenz gelangten, personifizierten Könige, Damen und sonstige Gelichter im Kartenspiel, einschließlich dem stets zu spät kommenden Außenseiter (Joker) über den Weg. Die neuen Inselbewohner sind Integrierte (U. Eco), d.h. sie kommen nicht auf die Idee, nach ihrem Woher? oder Wohin? zu fragen, was sicherlich gut für ihren Schöpfer, den Seemann ist. Der Einhaltung jener uralten Regel Es kann kein Gott mit seiner Schöpfung zugleich leben ist auf die passive Weise der Unwissenheit seitens der Kartenfiguren gesichert, da Gott=Seemann sich nicht zu erkennen gibt und von seinen Geschöpfen unerkannt bleibt, zumal die von Purpurlimonade stets glückselige Inselgesellschaft mit dem Auskosten ihrer Sinne und der Vorbereitung des Jokerfestes vollauf zu tun hat. Die Begründung der Regel Regel Es kann kein Gott mit seiner Schöpfung zugleich leben bleibt indes ein Geheimnis des Buches.

Erst der Joker, welcher neben Seemann und Millucken auch auf Abstinenz setzt, bekommt einen Durchblick und fordert den Tod Gottes und damit die Einhaltung der Regel, nun freilich aus der anderen, aus der aktiven, libertinären und emanzipatorischen Perspektive. Nachdem die dumpf vor sich hin dümpelnde Masse der Herzen, Karos usw. vom panischen Schrecken der Überzeugung, von jemanden an der Nase herumgeführt worden zu sein, ergriffen wird, fordert sie den Tod des Schöpfers und des die Schöpfung verkündenden Jokers. Durch die Säkularisierung beschwört sie die Krise herauf. Der Rest dieser Geschichte ist bekanntes Kulturerbe.

Die Frage ist, will der Leser eine Lusche (z.B. Karo Zwei) unter vielen im Kartenspiel sein, die zwar stets das ihre tut aber nicht weiter danach fragt, wer sie ist und das Warum? von allem ignoriert; oder will er ein Joker sein? Falls er Joker sein will, dann muß er über so etwas wie Warum? und Wer bin ich? nachdenken und sich damit der Gefahr aussetzen, gibt er seine Einsichten der Öffentlichkeit preis, von den übrigen Figuren des Kartenspiels als subversiver Spinner und als Fremder und Zumeidender isoliert zu werden. Vielleicht steht ihm gar noch Ärgeres bevor, wofür wiederum die Geschichte genügend illustre Beispiele zur Hand hätte.

Der Joker gewinnt viele Einsichten, und da dies Zeit, Besinnung und Konzentration erfordert, ist er mehr bei sich als bei den anderen, um derentwillen er doch im Selbstbewußtsein seiner Zugehörigkeit zu Gesellschaft auch erkennen will und muß. Letzteres speist sich aus der Erkenntnis, daß der Weise ebenso wie der Liebhaber der Weisheit, kurz Philosoph genannt, weiß, daß sie, um sich vereinzeln zu können, die anderen benötigen. Die detaillierte Diskussion der sich daraus ergebenden, spannenden Dialektik von Vereinzelung und sozialer Zugehörigkeit von Jokern müssen wir aber leider, bis auf die folgende grobe Andeutung, an dieser Stelle aufgeben und auf eine andere Gelegenheit vertagen. War Einstein ein Joker? Seinem Glaubensbekenntnis, der Gaarderschen These und der Geschichte zufolge, muß diese Frage klar bejaht werden: "Ich bin zwar im täglichen Leben ein typischer Einspänner, aber das Bewußtsein, der unsichtbaren Gemeinschaft derjenigen anzugehören, die nach Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit streben, hat das Gefühl der Vereinsamung nicht aufkommen lassen." (Einstein im Herbst 1932) (1) Der Joker ist der Mensch, der sich aus der Masse heraushebt, aus der kommt und zu der gehört. Wie entkommt er aber dem Elitarismus? Durch die Selbsterkenntnis, daß er ein Joker, ein kluger, wahrheitsliebender und humanistisch aufklärender Mensch ist, der allerdings nicht schweigen kann und sich dadurch unbeliebt macht. Deswegen hat man ihn, so Gaarder, als Narren stigmatisiert und mit dem Symbol der Seuchenkranken ausgestattet, der Klingel, den Schellen. Nur durch diese Instrumentalisierung und Institutionalisierung der Vernunft sind alle Nichtjoker davor gefeit, daß die Erkenntnis wie ein Gewitter über sie hereinbricht. Der Joker - der Nachdenker - muß sich durch lautes Gebimmel ankündigen, man weiß schon, was kommt, wenn er spricht oder schreibt. Die Figuren in Gaarders Phantasia würden vermutlich sofort zu Purpurlimonade oder Schwert greifen, um sich den Joker vom Halse zu halten. Joker trinken nicht mehr, wenn sie einmal begriffen haben, daß ihnen der Suff den Zugang zur vollkommenen Klarheit verwehrt. Aber: sie müssen den Suff kennen, um ihn meiden zu können. Sie müssen das Experiment des Berauschens durchgeführt haben. Wenn Hans-Thomas Vater in seiner eitlen Meinung, nämlich ein Joker zu sein, gekränkt seine Verfallenheit an die Trauben aufgibt, dann wird er zum wahren Joker und bekommt, was er erstrebt: ANITA in ATINA.

Wer allerdings schon weiß, daß er auf dem Weg ist, ein Joker zu sein, der experimentiere ruhig noch ein bißchen. Am besten experimentiert sich allerdings bei einem guten Glase und Gaarders Buch.

Anmerkungen

(1) Schallplatte, hrsg. von der Deutschen Liga für Menschenrechte. Nachzulesen als Text in: Die Naturwissenschaften, Jg.. 53 1966, S. 198 oder auszugsweise in: Friedrich Herneck, Einstein und sein Weltbild, Buchverlag Der Morgen, Berlin, 1976, S. 100

Jostein Gaarder

Das Kartengeheimnis

Carl Hanser Verlag München Wien 1995,

350 Seiten, Graphiken von Quint Buchholz

ISBN 3-446-17710-8