Die Wahrnehmung und die Auf­fassung des Lebens

M. Henry über die Kunst

Róbert Karul / Adriana Mayer (Übersetzung)

(Bratislava/ Slowakische Republik)

Die Kunst, und vor allem die bildnerische Kunst, ist ein Gebiet, das für die mit der Phänomenologie geformten Philosophen eine ontologische Anzieh­ungskraft hat. Die Einstellungen der Denker sind verschiedenartig. Aus der Kunst wird ein Phänomen gemacht, das ein dekadentes Derivat des Seins oder des Lebens ist, dessen dynamisches Wesen wird eine unveränder­liche Form, diese entlastet eine Möglichkeit der Entwicklung.i Die Entität der Kunst kann man ins Zentrum eigener metaphysischer Gedanken als eine Variation des Wesentlichen anstellen, was eine Kompliziertheit formuliert, die wir mit dem Wort der Mensch bezeichnen.ii

Im Folgenden versuche ich einen metaphysischen Gedanken M. Henrys und eine Variation davon zu vergegenwärtigen, mit deren er die Kunst greift bzw. assimiliert.

Das Denken von M. Henry ist phänomenologisch. Es grenzt sich sozusagen mit einer Erfassung der Erinnerung an die Gegebenheit des Phänomens ab, ein Modus, mit dem sich das Phänomen gibt und das wieder eine Beschaffenheit des Phänomens als solches bestimmt. Der Komplex des Phänomengebens fasst er als eine Affektivität oder als ein Gefühlsver­mögen auf. Mittels der Affektivität wird das Phänomengeben durch und durch bestimmt. Das Phänomengeben ist die Affektivität, die also nicht etwas ist, was nur zum Ganzen des Verständnisses der Phänomenalität beisteuert und ihr Grund wäre aus dem unaffektiven Stoff gebaut.

Die Affektivität nach M. Henry geschieht wie ein Selbsterfahren oder Auto­erfahren („l´auto épreuve“). Das Selbsterfahren ist ein universales Wesen der Wirklichkeit. M. Henry verbindet es bei seiner ersten Definition nicht mit irgendwelcher außerordentlichen oder spezifischen Emotionalität. Das Selbsterfahren bildet ein Begriffspaar oder ein Begriffsamalgam mit dem Leben, dass das Wesen der Wirklichkeit bildet. Das Verständnis der Phänomenalität liegt ausschließlich als der Affektivität mit dem Ver­ständnis der Wirklichkeit ausschließlich als Selbsterfahrens, als das des Lebens, übereinander. Dieses ist alles auf dem ersten Blick ein homogenes Geschehen des Selbsterfahrens, dessen Durchdringung sich nichts entzieht.

Um das Selbsterfahren zu vergegenwärtigen, können wir als ob aus dem gewöhnlichen Ansehen an den Affekt, an den Sinn herauskommen. Dieses, als wäre es ein gewöhnliches Geschehen des Affekts, findet sich in dem, was wir mit der gewöhnlichen Sprache als die Welt bezeichnen, zu welcher wie selbstverständlich das Wesen gehört, statt. Irgendwelche Erscheinung erregt in uns, im Wesen, einen affektiven Wiederhall. Es kann ein Objekt der Sehnsucht sein, oder auch ein Objekt, deren Affektivität in keiner Sehnsucht, sondern im gewissermaßen Unbeteiligen liegt, das dennoch kein Gefühlsvermögen erlöst. Das Phänomen hat seinen Inhalt, mit dem es sozusagen eine Sehnsucht ausruft, von dem aus wir zu dem Gefühlskorrelat weitergehen können zum erfahrenden Leib, der selbstverständlich im Element der Affektivität auftaucht. Hier ist es, als bricht eine gewöhnliche Auffassung der Affektivität ab und schreitet weiter fort wie schon im Raum des Denkens von Henry. Hier teilt sich die Affekti­vität ab, in ihr inhaltliches Korrelat und auch in ihr naives Verständnis des Leibs, der wie von außen betrachtet wirkt. (M. Henry nennt es als ein Leibobjekt). Die Affektivität ist keine Gegebenheit, kein Geben oder Donnation des Dinges, sondern sie gibt sich selbst und ist auch keine Gegebenheit des Leibobjektes. Die Affektivität gibt sich selbst, dennoch ist aber der einzige Rezipient, der im M. Henry´s Universum bekannt ist, die Affektivität. Diese gibt sich also der Affektivität im Prozeß des Auto-selbst-erfahrens hin. Dieses ist nach M. Henry das Wesen des Lebens. Das Auto-selbst-erfahren ist trotz scheinbarer Doppelheit des Erfahrenen und des Erfahrenden ohne jedweden Spalt, jedwede Lücke, wohin das die Re­flexion ermöglichend Licht durchdringen kann, und soeben deshalb, weil das, was erfahren ist und das, was erfährt, ist dasselbe. Das Geschehen des Auto-selbst-erfahrens wickelt sich im Reich der Dunkelheit ab, im Reich der Unsichtbarkeit. Bei der Bestrebung das Selbsterfahren aufzu­fassen, können wir also nicht übermäßig mit der Vorstellung helfen, dass die selbsterfahrene Affektivität eine Affektivität ist, die über sich weiß, die bewußt ist. Das Auffassen der Affektivität als das Selbsterfahren bedingt Henry´s Kristallisierung des Leibverständnisses. Der Leib ist eigentlich das Selbsterfahren in der Unmittelbarkeit, die ihm die un-bewußte Affektivität ergibt. Eine Reflektierung der Affektivität, eine Aufarbeitung zum Leib und zu seinem Bild durch das Wissen ist nur ein naives Leibverständnis, mit dem wir den Bereich der Wirklichkeit verlassen. Der Leib ist in der Struktur von Henry´s Denken identisch mit dem, was lebendig ist, mit dem Lebendem wie dem Substantiv. Der, welcher lebend ist, ist der Leib in seinem Selbsterfahren.

Die Bestimmung des Wesens des Seins als des Selbsterfahrens und des Lebens rekonfiguriert sich die ganze Wirklichkeit: das Leben wie die einzige Realität wird in der Klemmung, in der Zusammendrückung des Selbsterfahrens erfahren. Das Leben ist möglich nur wie das Erfahren, dem man nicht entfliehen kann, wie die Affektivität, die keine Aus­spannung ergibt und die ihre Anwesenheit in jedem Moment gibt. Diese Zusammendrückung, die Klemmung, gestaltet ein affektiver Leib. M. Henry nennt das Leben Gottiii und seine Lebensart in emotionalem Leib des Selbsterfahrens, ohne das allerdings der Gott/das Leben unvorstellbar ist, nennt er als Das Erste Lebende (le premier vivant).iv Der Gott, denen, welcher ist, also das pathetische Selbsterfahren, erzeugt er Den Ersten Lebenden; in der emotionalen Intensität des Leibes sind der Gott und Das Erste Lebende gleichwertig, sie sind Einer. Das Erste Lebende erträgt sich selbst (se souffrir) in der pathetischen Geschlossenheit, die nach M. Henry eine Freude/eine Liebe ist. Die Bedeutung des französischen Worts souffrir, das in dieser Position benutzt ist, ist in der ersten Reihe ein Leiden. Aber Das Erste Lebende lebt eine pathetische Beengung des Selbsterfahrens wie eine Intensität (der Freude/der Liebe), und nicht wie eine Belästigung der unverlassbaren, unannullierbaren Klemmung.

Der Gott und Das Erste Lebende sind Eins. das Lebensgeschehen Der Ersten Lebenden geschieht wie ein affektive Leib. Der affektive Leib ist zugleich ein Leib jedes menschlichen Wesens, deshalb jedes menschliche Wesen ist in seinem Grund Das Erste Lebende. Die Klemmung, der affektive Leibdruck Des Ersten Lebenden kann allerdings im menschlichen Wesen freisetzen und diese Freistellung bedeutet die Geburt des Egos des Selbsterfahrens hineinträgt sich der Einriß Des Äußeres, die Welt und das Ego eröffnen sich und bilden sich zugleich. Das Erfahrene und das Erfahrende teilen sich. Das Ich hat sich selbst vor sich. Das Urselbst­erfahren ändert sich in die Sorge. Das Ich erfährt sich wie eine Sorge um sich selbst. Das Leiden wie eine Potentionalität der Selbstverträglichkeit aktualisiert sich. Die Selbstverträglichkeit beginnt in der Polarität von Freude und Leiden sich zu bewegen. Das menschliche Wesen ist das auf­gelockerte Selbsterfahren damals, wenn in ihr ein Vermögen „können“ abwickelt, das dem Urselbsterfahren Des Ersten Lebenden auf die Weise „ich kann“ inhärent ist. Das Ich wird gebieterisch, leitet nicht un-bewußt seine Befähigung „können“ aus der Affektivität des Lebens her, in der Beziehung zu deren es passiv ist, aber es nimmt sich zum Grund und zum Aufkommen diesen „können“ an.

Der Spalt, der zwischen Ich und „sich“ in dem aufgelockerten Selbster­fahren entsteht, bringt dem „Ich“ keine Möglichkeit sich selbst zu fliehen, das Ich bezieht sich zu sich selbst einmal im Ansturm der Freude, andermal in der Dringlichkeit des Leidens. Der Spalt im Selbsterfahren trägt nicht nur eine Negativität des Leidens mit. Auch die Möglichkeit in einer Intensität der Affektivität sich zu erlösen. (Eine zweite Degradation der Affektivität.) Schon keine Freude und Kümmernis des „bloßen“ Lebens, aber die in der Freistellung des Selbsterfahrens wird das entkräft­ende Ich und die Welt des praktischen, utilitarischen Lebens, die Routine (fast) ohne den affektiven Inhalt entstanden.

Das praktische, utilitarische Leben wie die Entkräfteste Form des Lebens, eine Affektivität, ist noch immer eine Affektivität, weil es noch immer das Leben ist. Das Leben, das Selbsterfahren ist allgegenwärtig, aber M. Henry geht nicht um jedwederes Leben, unspezifizierte Affektivität, es geht ihm um die Lebensintensivierung, um das Leben Des Ersten Lebendes, denen das utilitarische Leben nur ein blasser, taumelnder Abglanz ist. Die Inten­sifikation des Lebens steigt empor durch die nochmalige Geschlossenheit des Lebens im Selbsterfahren. Da das Ich sich schon nicht als Herr seiner Fähigkeiten in „ich kann“ fühlen kann, sonst diese Fähigkeiten wieder­geben in der Schoß des Lebens, wo das egoistische Ich nicht ist. Diese „Intensifikation“ ist die äußerste Lebensform, aber die Intensifikation kann durch die Zwischenstufe fortsetzen und bemühen sich das Leben auch in der Zusammentrennung des „Ichs“ und „sich“ zu kräftigen. Während zu dem Ersten Lebenden wie dem menschlichen Wesen, das ich bin, anleitet das, was wir „eine Religion“ mit ihrem präferierten Lebensarten nennen, zur Intensifikation in der Zwischenstufe (die schon zu das Extrem bringen kann) führt die Kunst. Die Religion schält das Wesen aus den Formen der praktischen, selbstmittleren Welt aus, und so mit den präferierten Verhaltensformen, wie die Ehrerbietungv und die Barmherzigkeitvi sind, die das Wesen zum Gott zurückbringen. Dieses präfer­ierte, selbstvergessene Verhalten, präferierte „Variationen“ der Affektivität, dem sind, was das Erste Lebende ist. Wir prallen auf das Geflecht eines Metaphysischen, Ästhetischen und Ethischen auf.

Die positive Kunstaufgabenabgrenzung ist dieses Kräftigen der Affektivität bis zum Paroxysmus, bis zur Ekstase. Die negative Abgrenzung ist das Verwischen der Weltdekadenz des Utilitarismus. M. Henry benutzt den Begriff der Welt nur im Zusammenhang zum Utilitarismus, zur praktischen Besorgung, das seiner Meinung nach ein Schwächen der Affektivität bis zur Grenze der Empfindungslosigkeit ist. Es bedeutet nicht, dass er alle mögliche Extension des gewöhnlich benutzten Weltbegriffs negiert und nur als zu vergessende Schwächen sieht. Die Kunst soll bereits den Mensch zur Auffassung der Exteriorität zurückbringen, zum ihren Erleben in der Interiorität, zur Verflechtung der Interiorität und der Exteriorität in dem Sinn, dass nur das, was erfahren ist, ist wirklich. Falls wir einen Ausgangs­punkt aufnehmen, dass nur das, was erfahren ist, wirklich ist, die Interi­orisation wird eine Metapher auf die Weltadaptation aufgehört, weil die Interiorität und die Exteriorität sich in der Affektivität untergehen, in der Affektivität, in welcher uns die Welt gibt. Diese in der Affektivität ge­gebene Welt nennt M. Henry dem Universum.

Also, es ist hier eine Affektivität, zu derer untrennbar das Selbsterfahren im Schoß dieser Affektivität gehört, und die Kunsttätigkeit, die sie ihr identifizieren soll, und damit die Welt der Utilität auf die ursprüngliche Welt der Impression, der Eindruck, d. h. das Universums transformieren. M. Henry versteht anfangs das Objekt wie einen Bestandteil ausschließlich der gewöhnlichen Welt, der Welt der utilitarischen Finalität und des trivialen Wissens/des Erkennens. Die Impression ist nicht mit dem Objekt formiert und sie zum Objekt nicht anstrebt. M. Henry erwähnt, dass V. Kandinsky eine Stadt im gewissen Moment des Tages malen wollte, wenn sie mit dem Licht durchströmen war, die sie mit dem einzigartigen Glück sich fühlte, oder dass es eine erlebende Lichtintensität auffassen wollte, die dem Wald durchschimmert hat, und welche in ihm eine Ekstase erregt hat. Noch immer in diesen Annäherungen demjenigen, worum in der Kunst gehen soll, also in den Annäherungen des affektiven Erlebens, finden die Bezeichnungen der Objekten der gewöhnlichen Welt vor, der Wald, die Stadt usw. Es ist aber deutlich, dass das, was die Kunst auffassen soll und wie sie Erinnerung sein soll, sind die affektive Zustände, die aus diesen Umständen ausgerufen worden sind. V. Kandinsky wählt sich die Abstraktkunst aus. A. von Briesen malt abstrakt die Musik, damit sie die Empfindlichkeit in der Malerei, in der Zeichnung ausdrücken, die diese Empfindlichkeit wieder aufrufen soll. V. Kandinsky malt nicht die Stadt, nicht den Wald, sondern eine Affektivität, die durch sie geschah. „Die Stadt“ und „der Wald“ wie die Objekte sind nicht real. Real ist nur diese Affektivität. Das Spektrum der Gefühle, die zwischen dem Wahrnehmenden und der Malerei/der Zeichnung leben, ist breit bei V. Kandinsky und bei A. von Briesen. Das Leiden ändert sich an der Freude. Die Freude verändert sich in dem Leiden. Nur manche Bilder zielen auf die Empfindlichkeit Des Ersten Lebenden.

Also letztlich M. Henry (sowie auch V. Kandinsky) beschränkt nicht die Fähigkeit die Funktion des Intensifikators der Emotionalität zu erfüllen nur an die Abstraktkunst im engen Wortsinn, so an die Abstraktion, die absolut ein Objekt des normalen Lebens nachdruckt und ersetzt ihm mit der Emotionalität, einfach gesagt, die in der Form und in der Farbe (V. Kandinsky), oder nur in der Form (A. von Briesen) begreifen ist. Er behauptet, dass nicht nur die Abstraktion, aber auch Realismus diese Macht hat, zwar, nicht jeder Realismus, aber der Große Realismus, z. B. vom H. Roussean. Bei der Annäherung, warum der Große Realismus mit dieser Wirksamkeit begabt ist, geht er so weit, dass er sagt, dass jede Kunst gleichsam abstrakt und so affektiv ist. Als das Element der Malerei kann allein Objekt anwenden sein und die Malerei bleibt in diesem Fall eine abstrakt (sie abstrahiert von den utilitären Finalität), wenn an­wesende emotive Resonanz des Element-Objekts dabei ist.

Wenn die emotive Resonanz der Malerei und des Universums gleichsam identisch sind, dann kann die Malerei das auffassen was im Universum fehlt und eine Affektivität schöpfen, die überhaupt im Universum nicht enthalten ist, oder nur selten. Besser gesagt, nicht enthalten war, bei der Herstellung des Universums, beteiligt nämlich auch die Malerei, weil ihre Wesen gleichförmig ist, es ist die selbsterfahrende Affektivität. Mit dem Vergegenwärtigen der höchsten Moden der Affektivität hat die Kunst einen Anteil an die Erlösung des einzigartigen emotiven Leibs, des einzigartigen Lebens.


i So bei E. Levinas am Anfang seiner Entwicklung.

ii So bei M. Henry und M. Merlau–Ponty.

iii Kapitel 3.

iv Kapitel 4.

v § 39.

vi Kapitel 9 und 10.