Musée de Cluny, Paris, Mai 2009
Astrid Schleinitz
etwas das es nicht gibt, ein wesen mit gedrehtem horn, wie wir wissen, das gefangen
wird von einer jungfrau, einer wolkenleserin, dünn und weiß, ein schleier,
der bilder ausschüttelt, sogar hufschlag oder rauschen mit leichtem
knacken, wie von rasch vorüber fliegenden vögeln,
die es gibt, ein wort und überlegungen, ob es wie ein pferd oder eine ziege oder
ein ochse, quilin, oder vielleicht ein opfertier mit zusammen gebundenen
hörnern ist, ein bild, wie es weißlich leuchtet ähnlich wie das scheinen
des vollmonds vor den offenen nachträumen,
gekommen zu verwirren mit einer gleichmäßig getragenen traurigkeit, einem ton fast,
das horn ist wirklich, sehr lang, ainkhürn, wirksam gegen falschheit und gift,
garant für unsterblichkeit, ein passender thronsessel für den könig,
eine wahrheit, die sich eindreht und keine ruhe gibt, ähnlich wie
zweifel, sorge, sehnsucht, aber heilsam, ein bild wie bein, aus der welt der
wunder gefallen, das horn ist ein walzahn sagt das schild an der vitrine,
aber dort ist ein spalt, aus dem hartes klares licht entweicht,
ähnlich wie sternlicht im winter,
es könnte sein, sagt es, dass es diese klarheit ist die zählt, das sagt auch
die jungfrau wenn sie aufwacht und leise lachend, weil sie nichts zu
verbergen oder abzuwehren hat, die zuende gelesenen wolken
wieder nach oben steigen lässt
„etwas das es nicht gibt“ – verweist auf das vierte Gedicht im zweiten Zyklus der „Sonette an Orpheus“ von Rainer Maria Rilke („O dieses Tier, das es nicht giebt.“) und darauf, dass das Einhorn als Inbegriff des Nicht-Existenten in logischen Beispielen beliebt ist. Anders als bei anderen Fabeltieren war es aber nicht immer so klar, dass ihm nicht doch Existenz zukommen könnte, es etwa in einer schwer zugänglichen Region doch lebt; noch Mitte des 19. Jahrhunderts gab es mindestens einen Wissenschaftler, der diese These vertrat ( John Wilhelm von Müller, 1852). Im Mittelalter und der frühen Neuzeit wurden allgemein die Stoßzähne der Narwale für Einhornhörner ausgegeben, die als sehr kostbar galten, weil ihnen eine starke Schutzwirkung, vor allem gegen Gift zugeschrieben wurde. Könige, wie z.B. Elisabeth I. von England zahlten den Gegenwert einer ganzen Grafschaft für ein „Horn“. Es fiel zwar ab und zu einmal jemandem auf, dass es verhältnismäßig viele Hörner, nie aber ein ganzes Tier dazu gab, aber die Überzeugung, dass dieses Tier samt seinen Wunderwirkungen existiert, hielt bis ins 18. Jahrhundert an. Kaufleute handelten mit den Walzähnen unter strengster Verschwiegenheit ihrer Herkunft, und obwohl einzelne Forscher ab und zu ein Walskelett mit Stoßzahn sahen, war der Glaube an die Existenz des Einhorns so groß, dass sie das Tier „See-Einhorn“ nannten.
„das gefangen wird von einer jungfrau“ – abgesehen von der Frage, ob es existiert oder nicht, war das Einhorn ebenso wie andere Tiere schon seit dem 2. Jahrtausend v.Chr. Bestandteil von Fabeln und bildlichen Darstellungen, unter denen bestimmte Kombinationen wiederholt auftreten, z.B. das Motiv des Kampfes von Einhorn und Löwe, meist kosmologisch gedeutet, wobei der Löwe für die Sonne, das Einhorn für den Mond steht. Die Verbindung zu der Jungfrau kommt einerseits ebenfalls aus diesem Mondbereich, allerdings auf sehr assoziativem Weg und andererseits aus dem Physiologus, einer mittelalterlichen Sammlung von Tierportraits, von denen die meisten christlich heilsgeschichtlich interpretiert werden und in diesen Interpretationen teilweise wieder ältere Motive mit tradiert werden, hier das ursprünglich indische Motiv der Überlistung eines Waldmenschen oder Einsiedlers durch eine Frau, das in einer Variante auch im Gilgamesch-Epos in der Enkidu-Episode erscheint. Obwohl es auch Physiologus-Handschriften ohne das Motiv mit der Jungfrau gibt, ist es im gesamten Mittelalter sehr populär, ebenso wie die dazugehörige Symbolik der Jagd nach dem Einhorn, die christlich verstanden, für die nach der vollkommenen Tugend steht (in vielen Varianten).
Eine Merkwürdigkeit des Einhorns scheint es zu sein, dass es, wenn man die vielen Abbildungen und Texte bedenkt, für etwas Nicht-Existentes ziemlich viel Raum in der Zeichenwelt einnimmt, dass fast jeder, dem man sagen würde: male ein Einhorn, dieser Aufforderung leicht nachkommen könnte, und dass die so entstehenden Bilder aller Wahrscheinlichkeit mehr Ähnlichkeit miteinander aufweisen würden als welche vom Phönix, der Chimäre oder des Greifen.
„wie wir wissen“ – wir wissen sicher, dass das Einhorn nicht existiert, bewegen uns in einem diesbezüglich klaren Gedankenraum, die Jungfrau als „Wolkenleserin“ verschleiert diese Klarheit (sehr unphilosophisch) und lässt die Bilder sprechen, in denen die Frage der Existenz offener oder auch unwichtiger ist
die hier genannten Überlegungen über das Aussehen des Einhorns geben die drei Hauptthesen wieder, quilin oder ki lin(g) heißt das Einhorn in der klassischen chinesischen Schrift Shi Jing (Buch der Lieder), wo es ein Lied mit dem Titel „ Einhorn“ gibt—die sehr materialreiche Studie von Jürgen W.Einhorn: „Spiritalis unicornis“ (1976) nennt noch eine zweite chinesische Einhornvorstellung (Hsieh-chai), die weniger nashornähnlich gedacht ist
„weißlich“ – ein Versuch, Mond, Sterne, Wolken, Knochen/Bein, Schnee, gebrochene Klarheit als bildliches Leitmotiv aufzubauen und den Kosmosbezug aufzurufen
„ainkhürn“ – mittelalterliches Wort für Einhorn-Horn- in dieser Strophe geht es um die Materialität des Horns und die ihm zugeschriebenen Eigenschaften, wirksam gegen Gift zu sein (s.o.), was dazu führte, dass es zum Zeichen der Apotheker wurde, Unsterblichkeit zu verleihen (eher sagenhaft, aber auch christlich verstanden)
„ein passender thronsessel für den könig“ der Thron der dänischen Könige enthält für Einhorn-Hörner gehaltene Walzähne
„eine wahrheit die sich eindreht...“ – hier wird dem sichtbar Gedrehten des Horns/Zahns eine Tätigkeit zugeschrieben, die a) generell und unspezifisch verglichen wird mit das Denken begleitenden Empfindungen, die erst beim Auffinden einer sicheren Wahrheit wieder verschwinden und b) soll durch die Anspielung auf den Reliquienkult die Ähnlichkeit der Verbindung eines starken Wunsches nach Existenz eines Etwas (Einhorn/Heiliger der hilft/ Gott) aus einem als beweiskräftig angesehenen den Sinnen zugänglichen Indiz heraus vorgeführt werden
„sagt das schild an der vitrine“ – die Vitrine habe ich erfunden, weil ich das Bild vom Spalt brauchte – in Wirklichkeit befindet sich das Horn offen auf halber Höhe an einem Pfeiler angebracht
„hartes klares licht“ – hier wird die Klarheit über das Einhorn eigentlich unklar, da sich alles in eine Art Traum auflöst, in dem die Jungfrau und die Wolken wieder auftauchen: Klarheit dann so verstanden, dass eine Abwehrhaltung nicht nötig ist, etwa gegen die sagenhaften Züge in Verbindung mit dem Einhorn, die heute kein Gegenstand der Naturwissenschaft mehr sind, in der Kunstwissenschaft/Literaturwissenschaft aber einen wichtigen Platz innehaben
ein Zitat zum Schluss:
Es ist aber das Dasein in denen Fällen, da es im gemeinen Redegebrauch als ein Prädikat vorkömmt, nicht sowohl ein Prädikat von dem Dinge selbst, als vielmehr von dem Gedanken, den man davon hat. Z.E. dem Seeeinhorn kommt die Existenz zu, dem Landeinhorn nicht. Es will dieses nichts anderes sagen, als die Vorstellung des Seeeinhorns ist ein Erfahrungsbegriff, das ist, die Vorstellung eines existierenden Dinges. (...).
Ich habe, sagt man, es gesehen, oder von denen vernommen, die es gesehen haben.
(Kant: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration für das Dasein Gottes (1763))
Bemerkenswert erscheint hier, dass der Orientierung an der Erfahrung gleiche Gültigkeit zugesprochen wird wie einem direkt sichtbaren Indizienbeweis, dass dies aber nicht für die Verbindung Horn-Landeinhorn gelten soll – durch das Wort Seeeinhorn sie aber doch in dieser Benennung indirekt zitiert wird.
Einhorn, Jürgen W., Spiritalis unicornis. Das Einhorn als Bedeutungsträger in Literatur und Kunst des Mittelalters. München 1976 (Wilhelm Fink Verlag).